Beides ist konsequent: die Malerei von Carmen Herrera als solche und der Ort, an dem sie gezeigt wird. Vor zwei Jahren war in der Kunstsammlung NRW, dem Landesmuseum von Nordrhein-Westfalen, eine Retrospektive der US-amerikanischen Malerin Agnes Martin zu sehen: einer Künstlerin, die mit ihrer feinen Streifenmalerei erst im Alter berühmt wurde. Die aktuelle Werkschau mit Carmen Herrera schließt daran an. Auch sie malt ungegenständlich in einem konstruktiven System, das sie mit dessen Mitteln unterläuft. Carmen Herrera war länger als Agnes Martin nur Insidern bekannt. In Deutschland waren ihre Malereien erstmals 2010 in der Pfalzgalerie Kaiserslautern ausgestellt. Mittlerweile im 103. Lebensjahr, malt die aus Havanna stammende, seit 1939 in New York lebende Künstlerin nach wie vor und ist gefragt wie nie zuvor. Dabei sind ihre Bilder erstaunlich einfach. Die Farbe ist homogen und flächig aufgetragen. Kennzeichnend ist die Orientierung an der Symmetrieachse, die jedoch durch die Binnenform oder Abweichungen in der Farbigkeit relativiert wird, aber so, dass sich ein formales Gleichgewicht einstellt. Dass sie dafür – in ihren besten Werken – lediglich zwei Farben verwendet, macht einen weiteren Reiz dieser Malerei aus.
Es hilft für das Verständnis, dass die Ausstellung schon 1947 einsetzt, um den Weg der Reduktion zu verdeutlichen. Carmen Herrera hat zuvor in Brooklyn Kunst studiert; sie begegnet hier der New Yorker Avantgarde. Eine vielleicht noch wichtigere Rolle spielt ihr Aufenthalt in Paris 1948-1951, wo sie die herausragenden europäischen Künstler kennenlernt. Ihre Entscheidung für die reine Farbform-Malerei steht da, unterbrochen von einer kurzen expressiven Phase, bereits fest. Nach der Rückkehr nach Amerika rekapituliert sie die verschiedenen Spielarten der konstruktiven Kunst, die Farbfeldmalerei, die Op Art und das Hard Edge bis hin zu kantig monochromen Farbobjekten.
Verbindend ist die Abweichung vom rechten Winkel, das Arbeiten mit Schrägen, die sich oft zu Spitzen verjüngen. Die Farben sind dabei als Linien, Dreiecke oder kantig abwinkelnde Formen verschränkt, häufig im Dialog mit der Nicht-Farbe Weiß. Vorder- und Hintergrund interagieren. Positiv- und Negativform wechseln in der Wahrnehmung, und wie beiläufig und doch präzise Carmen Herrera dabei vorgeht, zeigen besonders ihre Serie „Blanco y Verde“ (1959-71) und die Folge der Wochentage (1975-78), die noch Statik und Bewegtheit in Beziehung zueinander setzen. Am Ende der Ausstellung sollte man übrigens in der Museumssammlung vorbeischauen, Dort sieht man als Erwerbung ein weiteres weiß-grünes Bild von Herrera, nun aus dem Jahr 2015, und zwar schräg gegenüber von einem ebenfalls angekauften, späten Gemälde von Agnes Martin: Auch das verbindet beide Künstlerinnen.
Carmen Herrera: Lines of Sight | bis 8.4. | K20 Kunstsammlung NRW Düsseldorf | 0211 838 12 04
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