12. März, Köln, Roncalliplatz: eine bunte Menschenmenge füllt die Domplatte mit Bannern, Plakaten, Trommeln und Fahnen. Wer hier steht, hat vielleicht afghanische Eltern oder schwingt kurdische Flaggen, ist vielleicht lesbisch, schwul, geflüchtet, kommt vielleicht aus Deutschland oder nicht. Die Stimmung ist ausgelassen, man beäugt sich neugierig, lächelt oder nickt anderen respektvoll zu.
Früher in diesem Jahr, nur wenige Meter entfernt, findet hier statt, was die innen- und außenpolitischen Debatten der folgenden Monate prägen wird. Doch was genau wann wie passiert ist – das ist auch drei Monate nach der umstrittenen Silvesternacht nicht wirklich zu sagen. Sicher ist: Innerhalb weniger Stunden finden hier hunderte sexuelle Übergriffe auf Frauen statt. Köln, diese weltoffene Stadt, dieser Ort der gelassen-gelebten Narrenfreiheit, wird zum Synonym einer nationalen Ohnmacht, die vor allem Polizei und Politiker in Erklärungsnot bringt.
Was dann geschieht, ist wie ein Taumel: Die Anzahl der Anzeigen steigt rapide, die sogenannten „Vorfälle der Kölner Silvesternacht“ dominieren die innerdeutschen Nachrichten. Als schließlich der Vorwurf aufkommt, auch Flüchtlinge seien an diesen Übergriffen beteiligt gewesen, wird eine Kontroverse losgetreten, die ihre traurigen Höhepunkte auf den Titelblättern von Magazinen wie im Asylpaket 2 findet.
Eine Woge von Ängsten, Hetze und Vorurteilen überrollt das Land und mit einem Male stehen Inhalte eines seit Jahrzehnten existierenden feministischen Diskurses im Fokus nationalen Interesses – und werden missbraucht. Die schon so lange so notwendige Verschärfung des Sexualstrafrechts trägt den bitteren Beigeschmack, in direktem Zusammenhang mit der gescheiterten Integration von Flüchtlingen zu stehen, so als vergewaltige oder grabsche der deutsche Mann nicht, so als könne er keine despektierlichen Blicke zuwerfen, so als kenne er keine sexistischen Sprüche.
Heute verläuft in Köln alles friedlich. Unter dem Leitspruch „Reclaim Feminism. Unser Feminismus bleibt antirassistisch“ hat ein Zusammenschluss verschiedener Netzwerke und Bündnisse eine Demo organisiert. „Wir verurteilen die sexuellen Übergriffe, die an Frauen verübt wurden und den betroffenen Frauen gilt unsere Solidarität“, heißt es in einer Stellungnahme, die zu Beginn verlesen wird. „Wir lassen nicht zu, dass diese Vorfälle instrumentalisiert werden, um eine Politik der Abschottung, Asylrechtsverschärfung und Massenabschiebung zu legitimieren.“
Jubel und anerkennende Pfiffe folgen, Fahnen werden geschwungen, Plakate wippen auf und ab. Was zunächst erscheint wie der übliche Ablauf einer Demonstration ist in Köln viel mehr. Bereits in der vergangenen Woche gab es in anderen Großstädten ähnliche Protestmärsche zum Weltfrauentag, doch schnell ist klar: nirgends werden so viele Antworten gegeben wie hier.
Deshalb ist auch die Frage, warum sie heute auf der Domplatte stehen, für die meisten nicht leicht zu beantworten. „Es gibt nicht den einen Grund“, erklärt eine Demonstrantin aus Frankfurt, „hier fließt vieles zusammen: die Flüchtlingsdebatte, die Vorfälle von Silvester, die Politik der EU.“ Ihre Begleiterin ergänzt: „Wir sind auch hier, um der AFD etwas entgegen zu setzen.“
Die Vielseitigkeit der Gründe spiegelt sich in den Plakaten und Kostümierungen der Demonstrierenden wider: Neben klassischen finden sich konkrete Antworten auf Äußerungen eines Diskurses, der das noch junge Jahr bestimmt. „Benutz mich nicht für Deine Hetze“ steht auf dem Plakat einer jungen Frau. Sie richtet sich an jene selbsternannten neuen Feministen, die die Missbrauchsfälle an Silvester benutzen, um Grenzschließung und massive Abschiebungen zu fordern.
Emotional wird es, als sich die Masse in Bewegung setzt und wenig später am Hauptbahnhof vorbeizieht – dem Ort, an dem das alte Jahr auf so unerwartete Art und Weise zu Ende ging. Hier werden die innenpolitische Dimension und die Verknüpfung der Ereignisse deutlich, genauso vergegenwärtigt die Kölner Demo die Einseitigkeit des bisher geführten Dialogs.
Und somit ist diese Demonstration mehr als ein alljährlicher Marsch, der sich mit Frauen auf der ganzen Welt solidarisiert. Sie zielt auf weit mehr ab als auf die Bekämpfung des Patriarchats oder den Untergang des Kapitalismus. Die Domplatte wird zur alternativen Diskussionsfläche. Jeden Tag ein achter März? So verrückt ist diese Idee in Köln nicht.
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