Warten, bis die Ampel grün leuchtet: neun, zehn, elf oder mehr Sekunden. Nach links schauen, nach rechts schauen, vorsichtig die Straße überqueren. So werden noch heute die Kleinsten für den Verkehr sozialisiert, während es die Älteren längst verinnerlicht haben: PKW-Fahrer:innen haben Vorfahrt, erst dann folgen Fußgänger:innen oder Radler:innen.
Brüssels Bewohner:innen können diese Regeln vergessen. Zumindest vorerst wurde die bisherige Mobilitätshierarchie über den Haufen geworfen. Seit dem 11. Mai herrscht eine kleine Verkehrsrevolution in der belgischen Hauptstadt. Das vier Quadratkilometer große Zentrum mit rund 50.000 Bewohner:innen gilt seitdem als verkehrsberuhigte Zone. Für Autofahrer:innen gilt ein Tempo-Limit von 20 Stundenkilometern. Und sie müssen Rücksicht nehmen und warten. Denn die bisherigen Regeln wurden auf den Kopf gestellt. Nun heißt es: erst die Fußgänger:innen, dann die Fahradfahrer:innen, und erst zum Schluss das Auto.
Zudem dürfen und sollen Passant:innen die gesamte Fahrbahn nutzen. Mit der Maßnahme reagierte Brüssel auf die Corona-Pandemie. Abstandsregeln waren und sind bekanntlich notwendig, um das Virus einzudämmen. Doch wie soll dies nach einem Shutdown auf engen Gehwegen eingehalten werden? Die Verantwortlichen entschieden sich dafür, die Straßen für alle freizugeben. Knapp 170 Schilder weisen auf die neue Verkehrshierarchie hin. Denn natürlich müssen sich auch die Bewohner:innen erst an die neue Ordnung gewöhnen.
Immerhin gilt das Land als Dienstwagen-Hochburg. Viele Menschen verbringen viel Zeit in Staus. Der Staat versuchte zuletzt, mit Steuervorteilen für E-Bike-Nutzer:innen oder Fahrgemeinschaften einen Verkehrsinfarkt zu verhindern. Denn die Vormacht des Automobils ist in Belgien weiter ungebrochen. So kommentiert Bürgermeister Philippe Close die Maßnahme seiner Kommune auch sehr vorsichtig: „Jeder kann mit dem Verkehrsmittel kommen, mit dem er will“, bekräftigte er im heute journal des ZDF.
Dabei plante seine Stadt ohnehin, zum 1. Januar 2021 eine Tempo-30-Zone einzurichten. Durch Corona könnte eine Eindämmung des gesundheitsschädlichen Verbrennungsmotors beschleunigt werden. Denn die Forderungen nach einer Verkehrswende werden in ganz Europa lauter, bekanntlich auch beim Nachbarn Deutschland.
Expert:innen zählen seit Jahren dringende Gründe für eine Verkehrswende auf. Diese könnte vor allem Vorteile für Bürger:innen bringen, darunter eine Zunahme der Lebensqualität im Wohnort, eine gerechte Gestaltung der Mobilität und eine erhöhte Sicherheit durch ein Tempo-Limit. Als größte Gefahr gilt jedoch die Luftverschmutzung. Aufgrund der Stickoxidbelastung kommt es in Deutschland pro Jahr zu knapp 13.000 vorzeitigen Todesfällen, wie die Europäische Umweltagentur (EEA) berechnet. Zum Vergleich: Deutschland zählt bisher 8.736 Todesfälle durch Covid-19 (Stand 5. Juni).
Kinder, Senioren und Kranke gehören zudem zu den Leidtragenden dieser Luftverschmutzung. Besonders in Ballungsräumen, wo die unteren sozialen Klassen leben, verursachen die Stickoxide Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Asthma, Allergien und Diabetes. Wie stark eine Verkehrswende die gesundheitlichen Schäden mindert, könnte der August beweisen. Denn dann beendet und evaluiert Brüssel seine kleine Verkehrsrevolution.
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