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Marine Vacth in Ozons „Jeune et jolie“
Foto: © Mandarin Cinéma

Sex und Gewalt in Südfrankreich

10. Juni 2013

Die 66. Filmfestspiele in Cannes – Festival 06/13

Während hunderte Randalierer sich in Paris nach einer Groß-Demo gegen die „Homo-Ehe“ eine Straßenschlacht mit der Polizei lieferten, gingen zeitgleich in Cannes die Filmfestspiele mit der Preisvergabe zu Ende. Und als wollte die Jury die Ausschreitungen in Paris kommentieren, vergab sie die Goldene Palme an Abdellatif Kechiche für seine dreistündige Bestandsaufnahme einer lesbischen Liebe in „La vie d'Adèle“ (Alamode). Kechiche hatte mit seinem Film, der vor langen und expliziten Sexszenen nicht zurückschreckt, in den letzten Festival-Tagen einen wahren Sturm ausgelöst. Nicht etwa einen der Entrüstung, sondern vielmehr einen der Begeisterung, denn die Kritiker waren alle voll des Lobes für sein Werk, das mit viel Mut und Einfühlungsvermögen diese junge Liebe innig und intim beschreibt. Dabei sollte man das größte Lob den beiden Hauptdarstellerinnen machen, die hier eine sehenswerte intensive Performance abliefern und denen dafür – erstmals in der Geschichte des Festivals – gemeinsam mit dem Regisseur die Goldene Palme überreicht wurde. Der Film ist in zwei Teile geteilt, von denen der erste darüber berichtet, wie sich ein 15-jähriges Mädchen Hals über Kopf in eine etwas ältere Kunststudentin verliebt und alle sozialen Kontakte zu ihren Eltern und Freunden abbricht, um dann im zweiten Teil von ihrer Trennung zu berichten, die Adèle von Wolke 7 ins Bodenlose abstürzen lässt und sie zwingt, erstmals ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es ist eine ‚Coming of Age’-Geschichte, die Kechiche da erzählt, und er tut dies mit einer ungeheuren Emotionalität und Intimität, was seinen Film aus der Masse heraushebt. Doch auch wenn insbesondere die französische Presse immer wieder betonte, dass der Film bei aller Explizität nie voyeuristisch ist, muss mal wohl eingestehen, dass er genau das schon ist.
Überhaupt konnte man in Cannes drei Trends ausmachen, mit dem das Kino offensichtlich versuchen will, mehr Aufmerksamkeit zu erreichen:

Trend #1: mehr Sex
Neben „La vie d'Adèle“ warteten auch andere Filme mit expliziten Sex-Aufnahmen auf. So zeigt uns zum Beispiel François Ozon in „Jeune et jolie“ (Young and Beautiful) den makellosen Körper des französischen Supermodels Marine Vacth aus allen erdenklichen Positionen, in einer Ästhetik, wie man sie einem homosexuellen Regisseur kaum zugetraut hätte. In vier Episoden, denen jeweils ein Lied, eine Jahreszeit und eine andere Perspektive zugeordnet sind, erzählt Ozon von der 17-jährigen Isabelle. Im Sommerurlaub wird sie entjungfert, im Herbst beginnt sie zuhause ein Doppelleben als Prostituierte, hört damit aber wieder auf, als ihr Lieblingsfreier während des Akts am Herzinfarkt verstirbt. Im Winter kommt ihr die Polizei auf die Spur, so dass sie ihr Tun ihrer Familien eingestehen muss und im Frühling kommt es zu einem Treffen mit der Witwe (Charlotte Rampling) des verstorbenen Freiers, das Isabelle über das Geschehene hinwegkommen lässt. Die dritte Episode ist die uns Eingänglichste. Sie wird aus der Perspektive der Mutter geschildert und stellt die Frage nach dem „Warum?“ Und genau diese Antwort will Ozon nicht geben. Isabelle hat alles, was ein junges Mädchen sich wünschen kann, ein gutes Zuhause, eine gute Schule, viele Freunde, ein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder, ja sogar den Stiefvater mag sie, und ihre Mutter meinte immer ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr zu haben. Und nun so etwas. Dass Ozon hier nur Fragen stellt und keine Antworten gibt, schützt den Film davor, profan oder pädagogisch zu werden, entlässt den Zuschauer aber auch ein wenig unbefriedigt aus dem Kino. Der Anfang erinnert an Eric Rohmers „Pauline am Strand“ und vom Ende hätte man sich etwas mehr Gesellschaftskritik à la Chabrol gewünscht.

Der französische Beitrag „Stranger By the Lake“ (Alamode) in der Reihe „Un Certain Regard“ begnügt sich nicht mit nackter Haut und schönen Körpern, sondern liefert gar „standfeste“ Tatsachen. Doch auch hier sind die pornografischen Sexszenen legitimer Ausdruck des Filmthemas, das um Liebe und Begehren schwuler Männer kreist, die sich im Sommer an einem idyllischen See treffen, um zu baden, Kontakte zu knüpfen und Sex zu haben. Im Mittelpunkt steht Franck, der zunächst mit einem stillen, etwas korpulenten Außenseiter ins Gespräch kommt, dann aber zunehmend fasziniert ist von einem Neuankömmling: Michel, ein smarter Schönling, ist ein undurchsichtiger Charakter, der sich später sogar als Mörder erweist. Doch obwohl Franck dies ahnt, ist er bereit, seine neu erwachte Leidenschaft auszuleben. Regisseur Alain Guiraudie beobachtet seine Figuren genau und filmt in langen Einstellungen. Dabei lotet er die Bedeutung von Sex, Liebe und die Schwierigkeiten des Zusammenlebens glaubwürdig aus, zeigt aber auch die Gleichgültigkeit untereinander.

Trend #2: mehr Gewalt
Für den Trend zu immer mehr Gewalt war in den letzten Jahren meist das asiatische Kino zuständig. In Venedig gibt es hier schon fast eine eigene Sektion, was wohl auch Cannes veranlasste, diese Filme etwas vom Normalbetrieb abzurücken. So lief der neue Film von Johnny To („Blind Detective“) nur in einem Midnight Screening, während es Takashi Miike mit „Shield Straw“ immerhin in den Wettbewerb schaffte. Auch Nicolas Winding Refn, dessen neue Zusammenarbeit mit Ryan Gosling in „Only God Forgives“ (Tiberius Film/24 Bilder) wohl am heißesten erwartet war, legte eine ziemliche Gewaltorgie vor.
Eine der wenigen Produktionen mit deutscher Beteiligung, die es in den Wettbewerb schafften, war der mexikanische Film „Heli“, der von der Filmstiftung NRW gefördert wurde und den Regiepreis gewann.

Heli hat einen Job in der Fabrik und hat es sich in einem kleinen Häuschen mit Frau und Kind, seinem Vater und seiner kleinen Schwester Estela ganz gut eingerichtet. Doch letztere ist unzufrieden und will weg. Sie hat sich mit einem jungen Mann angefreundet, der eine Polizeischule besucht und bei einer offiziellen Drogenvernichtung zwei Pakete Kokain mitgehen lässt, die den beiden den Start in eine gemeinsame Zukunft sichern sollen. Ein grandioser Fehler, wie sich schon am nächsten Tag zeigen soll. Eine Polizeieinheit fährt vor, bricht die Tür ihres Hauses auf, erschießt den Vater und verschleppt Heli, seine Schwester und deren Freund. Während wir uns Estelas Schicksal denken können, sind wir in der zweiten Hälfte Zeuge der diversen Folterpraktiken an ihrem Freund. In aller Ausführlichkeit zeigt der Film, wie er ausgezogen und geschlagen wird, bis ihm das Rückrat bricht und am Ende sein Penis in Brand gesetzt wird. Auch wenn der Film aus der mexikanischen Wirklichkeit berichtet und der Regisseur versicherte, dass die tatsächlichen Folterpraktiken noch viel brutaler und unmenschlicher sind, darf man wohl bezweifeln, dass er mit solchen Bildern hierzulande ein breites Publikum finden wird.

Der einzige deutsche Film, der ebenfalls stellenweise schwer zu ertragen ist, war das Regie-Debüt von Katrin Gebbe, deren Film „Tore tanzt“ in der Un Certain Regard zu sehen war. Sie erzählt eine moderne Passionsgeschichte, basierend auf einem wahren Fall, die heftige Zuschauerreaktionen provozierte und inhaltlich etwas an Lars von Triers „Breaking the Waves“ erinnert. Darin begibt sich ein engelsgleicher und wurzelloser junger Mann in die Hände einer sozial schwachen Familie, die sich auf den zweiten Blick als schwer dysfunktional entpuppt. Als tiefgläubiger Anhänger einer religiösen Subkultur, die sich dem wahren Weg Jesu verschrieben hat, glaubt er durch das Erleiden schwerer Misshandlungen die junge Tochter aus der Gewalt ihres Stiefvaters erretten zu können. Intensiv gespielt und schonungslos direkt gelingt es Gebbe den schmalen Grat zwischen vermeidlicher Normalität und menschlichen Abgründen aufzuzeigen; ebenso hinterfragt sie die Essenz der christlichen Lehre - ein aufwühlender und starker Film, der durch seine Kompromisslosigkeit und Kraft überrascht.

Gewalt, wie man sie im Kino besser ertragen kann, zeigte der niederländische Wettbewerbsbeitrag „Borgman“, den man als bissige Gesellschaftsparabel verstehen könnte. Er geht weit über Filme wie „Sightseers“ hinaus und ist nicht nur um seiner selbst Willen politisch unkorrekt. Voller Allegorien, die sich mit der Heimsuchung der westlichen Vorstadtidylle beschäftigen und deren Moralvorstellungen ad absurdum führen, erzählt er von dem geheimnisvollen Borgman. Dieser nistet sich als ungebetener Gast bei einer bürgerlichen Vorzeigefamilie ein und wird schließlich zu einem dauerhaften Parasiten, der unerhoffte Bewegung und schließlich Angst und Schrecken ins Haus bringt. Schwarzhumorig bis zum Äußersten bombardiert Alex van Warmerdam genüsslich die Fassade mit visueller Originalität und lässt einen weiten Raum für Deutungen und Interpretationen. So innovativ und böse zeigte sich zuletzt nur das neue griechische Kino mit „Dogtooth“.

Trend #3: mehr Fernsehen
Für Festivalleiter Thierry Fremaux war dieses Jahr vielleicht ein Festival der Kompromisse. So entschied er sich für „Der große Gatsby“ als Eröffnungsfilm, obwohl dieser schon in den USA gestartet war und holte mit „Behind the Candelabra“ einen Fernsehfilm in den Wettbewerb, was noch vor wenigen Jahren undenkbar war – da wurden selbst so kinogerechte Filme wie „Carlos“ in eine Nebensektion verbannt. Daher musste Regisseur Steven Soderbergh erst einmal überredet werden, seinen wieder einmal „letzten“ Film (der letzte „letzte“ Film war „Side Effects“ auf der Berlinale) im Wettbewerb zu starten, wo er 1989 die Goldene Palme mit „Sex, Lügen und Video“ gewann. Vielleicht wollte Fremaux aber auch einfach nur einen Film, in dem Michael Douglas als homosexueller Entertainer Liberace mit Matt Damon ins Bett steigt, nicht in einer Nebenreihe verstecken. Doch ein Skandal blieb aus, auch wenn die Amerikaner den Film für im Kino nicht zeigbar halten, hatten die Journalisten in Cannes viel Spaß, zum Beispiel auf der Pressekonferenz, wo Matt Damon darüber witzelte, dass er Michael Douglas für die Kuss-Szenen die Geschmacksrichtung seines Lip-Glosses aussuchen ließ. Douglas wiederum zeigte sich sehr bewegt darüber, dass ihm diese Rolle so kurz nach der Überwindung seiner Krebserkrankung angeboten wurde. Tatsächlich läuft er hier zur Hochform auf, wenn er dem vor allem in den sechziger und siebziger Jahren erfolgreichen US-amerikanischen Pianisten und glamourösen Entertainer Gestalt verleiht. Soderbergh erzählt aus der Perspektive seines zeitweiligen Chauffeurs Scott Thorson – basierend auf dessen autobiografischen Roman – der für einige Jahre zu seinem heimlichen Liebhaber wird. Denn Liberace bekannte sich nicht öffentlich zu seiner Homosexualität, führte sogar verschiedene erfolgreiche Prozesse gegen die immer wiederkehrenden angeblichen Verleumdungen. Soderbergh zeichnet glaubwürdig und mit leichter Ironie die sechsjährige Beziehung zwischen dem schwerreichen Publikumsliebling und dem von Matt Damon ebenfalls grandios gespielten Jungen aus der Provinz nach, der als Pflegekind aufwuchs und in Liberace auch eine Art Ersatzvater sah. Doch obwohl Liberace ihm wirklich Zuneigung entgegenbringt, mutiert Scott zunehmend zu einem weiteren seiner Schoßhündchen. Er lässt sich sogar zu einer Gesichtsoperation überreden, die ihn in das Spiegelbild des jungen Liberace verwandeln soll. Schließlich muss er einem Jüngeren weichen. Jahre nach der Trennung stirbt Liberace 1987 an AIDS. Einem Kinobesitzer kann diese Fernsehproduktion echt Angst einjagen: Mit einer Ausstattung, die ihresgleichen sucht, lässt Soderbergh die Glamour-Welt des Las Vegas der 70er Jahre wieder auferstehen und brennt ein Ausstattungs-Feuerwerk ab, wie man es eigentlich von Baz Luhrmans „Gatsby“ erwartet hätte. Darüber hinaus weiß er mit guten Schauspielern, Ironie und viel Unterhaltung zu punkten, so dass man sich diesen Film nur im Kino hat wünschen können.
Dies ist leider bei einer weiteren HBO-Produktion nicht der Fall, die außer Konkurrenz zu sehen war. Guillaume Canets französisches Ensemble-Drama „Blood Ties“, das mit hochkarätiger Besetzung, darunter Clive Owen, Marion Cotillard und Mila Kunis aufwarten konnte und in New York der siebziger Jahre spielt, bleibt mit seiner sehr konventionell erzählten Geschichte über Hass-Liebe zweier Brüder hinter den Erwartungen zurück.

In den Nebensektionen
Auch die Nebensektionen wurden mit bekannten Namen eröffnet: So z.B. die Quinzaine des Réalisateurs, in der Ari Folman seinen mit Spannung erwarteten „The Congress“ (Pandora) vorstellte. Der Film beginnt als Realfilm, in dem die Schauspielerin Robin Wright, deren Stern zu verblassen droht, ein beispielloses Angebot bekommt: die Miramount Studios wollen die Rechte an ihrer Person für 20 Jahre kaufen, sie scannen und ihr digitales Abbild für alle denkbaren Rollen besetzen, ohne Beschränkungen, ohne ihr Mitspracherecht. Im Gegenzug erhält sie eine astronomische Summe und das Versprechen, dass ihr digitales Ich niemals altert. Zusammen mit einem sehenswerten Harvey Keitel als ihren Manager handeln sie den Vertrag aus. Folman nimmt in diesem Teil das Studiosystem Hollywoods ein wenig auf die Schippe und zeigt, wie technische Errungenschaften das Filmbusiness beeinflussen. Zwanzig Jahre später ist Robin Wright immer noch ein Star, nur das Miramount nun ein Halluzinogen von ihr herstellen möchte, mit dem sich jeder so fühlen kann, wie der Star, den er bewundert. Hierzu muss Robin noch einmal mit dem Studioboss (Danny Huston) verhandeln und dazu in eine Art Disneyland reisen. In diese phantastische Wunderwelt gelangt sie nur mit einer Droge, die sie zur Comic-Figur werden lässt, als die sie nun diese Comicwelt betreten kann. Eine tolle Geschichte, die sich im zweiten Teil an Stanislaw Lems Roman "Der futurologische Kongress" anlehnt, doch Folman versagt genau da, wo man seine Stärken vermutet hätte. Denkt man an die sensationelle Ästhetik eines „Waltz with Bashir“, hätte man auch hier neue, noch nicht gesehene Bilder erwartet, doch Folman beschränkt sich auf einen psychedelischen Pop-Art-Trip, den er mit allerlei Zitaten aus der Film- und Weltgeschichte garniert. Das ist gelegentlich witzig, manchmal auch originell, aber im Wesentlichen beliebig.

Etwas mehr los war da schon bei der Eröffnung der Un Certain Regard mit Sofia Coppolas „The Bling Ring“ (Tobis), den alle eher im Wettbewerb vermutet hätten. Coppola gelingt ein unterhaltsamer, wenn auch nicht besonders tiefgehender Blick auf das absurde Leben gelangweilter, reicher Teenager in Los Angeles, die vor lauter Vernachlässigung und Life-Style-Terror schließlich auf die Idee kommen, in Häuser von diversen Celebrities einzubrechen, um sich dort mit den ersehnten Status-Objekten einzudecken. Coppola bedient sich der social-media-Ästhetik, die die Kids selbst hervorbringen und entlarvt damit durchaus eine narzisstische Gesellschaft ebenso wie sie diese bedient, denn als Zuschauer ist man, ähnlich wie bei der heimlichen Gala-Lektüre, schon fasziniert von der grenzenlosen Dekadenz in den Hollywood Hills.

Ebenfalls in der Un Certain Regard zu sehen war Ryan Cooglers „Fruitvale Station“ (DCM), der schon in Sundance sowohl den Jury- als auch den Publikumspreis abräumte. Der Film erzählt vom modernen Rassismus. Oscar, ein 22jähriger Farbiger, wurde gerade aus der Haft entlassen und will ein besserer Mensch werden. Er will seiner gutmütigen Mutter endlich ein guter Sohn, seiner hübschen Frau ein guter Ehemann und seiner süßen Tochter ein guter Vater sein. Trotz all dieser guten Vorsätze gerät er unverschuldet in eine Schlägerei bei einer Bahnfahrt, die einen unglaublich brutalen Einsatz der Sicherheitskräfte auslöst, der Oscar das Leben kosten wird. Der sozial engagierte Film, der auf einer wahren Begebenheit beruht, verpufft leider ein wenig, weil er allzu pädagogisch daher kommt und dem Zuschauer seine Sichtweise aufzwingt und dabei Lichtjahre entfernt ist von der kontroversen Genialität eines Spike Lee mit „Do the Right Thing“. Obwohl gut gespielt und spannend erzählt, nimmt man ihm seine anklagende politische Position nicht so recht ab.

Ganz anders Claire Denis, die erzählerisch die Welt des Postkolonialen verlässt und sich dafür in ihrem rätselhaften, düsteren Psychodrama „Bastards“ (Produktion: Pandora) der patriarchalen Gewalt widmet. Wilde Zeitsprünge in kurzen Abständen machen es dem Zuschauer zunächst schwer, die Figurenkonstellationen zu begreifen, ähnlich dem Protagonisten, der versuchen will aufzuklären, wie es zur Vergewaltigung seiner jungen Nichte kam, um dann eventuell Rache zu üben. Doch das Seelenleben aller Beteiligten ist so fragmentiert wie die Erzählebene und was sich nach und nach davon ans Tageslicht begibt, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. So gelingt Denis ein vielschichtiger Film über menschliche Abgründe in bester Tradition von David Lynch.

Schwer zu verstehen und schon beinahe Videokunst war James Francos neue Regiearbeit „As I Lay Dying“ (Splendid) nach dem Roman von William Faulkner. Er schrieb das Drehbuch und spielte die Hauptrolle in dieser Art Road Movie-Western, in dem eine Familie die verstorbene Mutter unter widrigen Umständen ins Familiengrab überführt. Auch wenn der Film ungeheuer sperrig ist, im englischen Original kaum zu verstehen war und mit unsympathischen Typen aufwartet, gelingt es ihm zumindest die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen, die genügend Sitzfleisch hatten und die unzugängliche Anfangsphase durchstanden.

Eine echte Entdeckung in der Un Certain Regard war dagegen „Wakolda“ von der argentinischen Regisseurin Lucia Puenzo, deren Vorgänger „XXY“ schon einen Achtungserfolg in unseren Kinos feierte. Ihre Geschichte spielt 1960 in Patagonien. Dort schließt sich ein deutscher Wissenschaftler einer argentinischen Familie an, um mit ihr den langen beschwerlichen Weg nach Bariloche quer durch die Wüste anzutreten, wo die Familie ein Hotel wiedereröffnen will. Schon auf der Reise erweckt die 12-jährige Lilith das Interesse des Deutschen. Sie ist deutlich zu klein für ihr Alter und er will sie gerne mit Hormonen behandeln. Doch ihr Vater ist skeptisch und vertraut dem Deutschen nicht. Erst als er der schwangeren Mutter Zwillinge diagnostiziert, gewinnt er ihr Vertrauen und das Einverständnis, Lillith heimlich behandeln zu dürfen. Als die Zwillinge zur Welt kommen, ist nur eines der beiden überlebensfähig, und wieder bietet der Deutsche seine Hilfe an. Für den Konflikt zwischen dem Vater und dem Fremden findet Puenzo eine wunderschöne Metapher. Während der Deutsche damit experimentiert, die Kinder genetisch zu verändern, um sie überlebensfähiger zu machen, bastelt der Vater Puppen von ihnen, um ihre Einzigartigkeit zu verewigen. Am Ende behält der Vater mit seinem Misstrauen recht, auch wenn wir erst im Abspann erfahren, dass es sich bei dem Deutschen um Dr. Mengele handelte, der noch viele Jahre in Argentinien praktizieren und seinen genetischen Experimenten nachkommen konnte.

Zweifacher Gewinner in der Quinzaine des Réalisateurs war eine der wenigen Komödien des gesamten Festivals: „Me, Myself and Mum“ (Concorde) mit Diane Kruger in einer wunderbar skurrilen Nebenrolle als sadistische Spa-Schwester. Der französische Theaterschauspieler und Komiker Guillaume Gallienne inszeniert sein eigenes, leicht autobiographisch angehauchtes Theaterstück selbst und spielt nicht nur die Hauptrolle, sondern auch die seiner eigenen Mutter. Jenes familiäre Verhältnis ist so komisch wie komplex: Völlig überzeugt davon, dass ihr Sohn schwul sei, behandelt sie Guillaume wie ein Mädchen, der durchaus in dieser Rolle aufgeht und sich zum Entsetzen seines Vater schon mal als Sissi verkleidet. Er genießt die Aufmerksamkeit seiner Mutter, die ihn offensichtlich seinen penetrant heterosexuellen Brüdern vorzieht und verliebt sich tatsächlich unglücklich in einen Klassenkameraden. Aber so sehr sich Guillaume auch Mühe gibt im Schwulsein aufzugehen, will es doch nicht so recht klappen. Vielleicht weil er gar nicht auf Männer steht? Gallienne feuert in seinem heterosexuellen Coming-Out ein Gag-Feuerwerk nach dem anderen ab, in dem Geschlechterrollen aufgebrochen und persifliert werden, zu Gunsten eines queeren Verständnisses von Liebe und Leben. Das ist manchmal albern, aber meistens dank fantastischer Dialoge und Schauspieler urkomisch und warmherzig; außerdem auch in seiner Form als Theaterstück im Film wirklich originell und gelungen. Ausgezeichnet wurde „Me, Myself and Mum“ mit dem Art Cinema Award der CICAE und dem SACD Preis.

Außer Konkurrenz
Viel Applaus bekam auch Robert Redford für seine außer Konkurrenz im Wettbewerb zu sehende „One Man Show“ in „All Is Lost“, in der der Überlebenskampf eines namenlosen Schiffbrüchigen gezeigt wird. Nachdem seine Yacht mit einem verloren gegangenen Container mitten im Indischen Ozean zusammengeprallt ist, versagen die Navigationsgeräte und so segelt Redford geradewegs in das Auge eines gigantischen Sturms. Allein auf seine seemännischen Erfahrungen angewiesen, setzt diese Ausnahmesituation ungeahnte Kräfte in ihm frei, und doch scheint er am Ende des Films auch seinem Lebensende entgegenzusehen. Konnte ein Film wie „Kon-Tiki“ noch für die Handlung Kapital aus sozialen Prozessen zwischen den Floß-Passagieren schlagen, ist „All Is Lost“ eine One-Man-Show, die Redford jedoch mit Bravour meistert. Weit entfernt von einem Action-Film, weiß J.C. Chandors Inszenierung auch ohne pompöse Ausstattung zu fesseln und lässt den Zuschauer mit dem Protagonisten mitfiebern.

Als Special Screening war Stephen Frears „Muhammad Ali's Greatest Fight“ zu sehen, bei dem es sich weniger um einen Sportfilm als einen klassischen Gerichtsfilm à la Sidney Lumets „Die 12 Geschworenen“ handelt, der Einblick gibt in die Arbeit des höchsten amerikanischen Gerichts, dem Supreme Court. Die acht höchsten Richter bringen es auf ein Durchschnittsalter von über 70 Jahren. Jeder einzelne von ihnen hält sich ein Büro, in dem die besten College-Absolventen der Jura-Fakultäten des ganzen Landes versammelt sind. Sie alle sind gerade mit dem Fall Muhammed Ali gegen die USA befasst, denn Ali hat den Wehrdienst und damit die Einberufung nach Vietnam verweigert. Dafür gibt er religiöse Gründe an, die die Gerichte bisher abgelehnt haben, und die nun beim Supreme Court zur Entscheidung anstehen. Stephen Frears inszeniert daraus einen spannenden Gerichtsthriller, der mit einem ähnlich patriotischen Touch wie Spielbergs „Lincoln“ ein Loblied auf die amerikanische Verfassung singt, darüber hinaus aber ungemein spannend ist, mit guten Schauspielern aufwartet, auf historischen Tatsachen beruht und immer wieder Original-Footage von Muhammed Ali einblendet. Insbesondere der junge Ali ist hier eine beeindruckende Figur, die nicht nur jeden Gegner austänzelt und wortreich in der Öffentlichkeit verhöhnt, sondern auch seine politischen Rechte in Talkshows eloquent zu vertreten weiß.

Doch kommen wir zurück zum Wettbewerb, wo Asghar Farhadis „Le passé“ (Camino) zum Liebling der Presse avancierte. Der iranische Regisseur, auf dem nach seinem Oscar für „Nader und Simin – Eine Trennung“ hohe Erwartungen lagen, konnte erneut ein erzählerisch raffiniertes und äußerst bewegendes Schaupielerkino vorlegen, mit einer erstaunlich ernsthaften Performance von „The Artist“-Star Bérénice Bejo, die dafür als Beste Schauspielerin geehrt wurde. Nach vier Jahren der Trennung von seiner Frau, die längst mit einem anderen liiert ist, kommt Ahmed aus dem Iran nach Paris, um ihrem Wunsch nachzukommen, die Scheidungspapiere zu unterschreiben. Er findet eine vollkommen desolate Patchwork-Familie vor, in der Mutter und Tochter heillos zerstritten sind, und versucht ihren Problemen in endlosen Gesprächen auf den Grund zu gehen. Unversöhnlichkeit und unausgesprochene Anschuldigungen gären hier in einer außergewöhnlichen Familienstruktur und Farhadi dekonstruiert meisterhaft jegliche Vorannahmen des Zuschauers über die Figuren und ihre Motivation. Es ist faszinierend und verblüffend, wie er mit so reduzierten Schauplätzen das Maximum aus der Geschichte und seinen Darstellern herausholt, auch wenn der Plot (insbesondere die Tatsache, dass der Vater aus dem Iran kommen muss, um die Familienverhältnisse wieder in Ordnung zu bringen) einen merkwürdig patriarchalischen Beigeschmack hat und alle gesellschaftlichen Missstände im Iran ausblendet, was den Film dann doch etwas hinter seinen Vorgänger zurückwirft.

Geliebt oder gehasst wurde dagegen Paolo Sorrentinos bildgewaltiger „La grande bellezza“ (DCM), dem damit das gleiche Schicksal beschieden war wie seinem Vorgänger „Cheyenne“, der hier schon 2011 ähnliche Reaktionen hervorrief. Der Film ist wie eine Neuauflage von „Fellinis Roma“ und macht sich auf die poetische Suche nach den wahren Werten des Lebens, die irgendwo hinter dem Lärm und der Geschäftigkeit des modernen Lebens verborgen liegen. Durch das moderne Party-Rom führt uns ein in die Jahre gekommener Gesellschafts- und Klatschkolumnist, der den Zuschauer mit jeder Menge Zynismus mit lauter schrillen Leuten bekannt macht, die auf Society-Partys ihre Intrigen und andere dubiose Machenschaften einfädeln. Wie schon bei Fellini bekommt hier jeder sein Fett weg, die Geschäftsleute, die Politiker und der Klerus. Sorrentino kontrastiert seine Abnormitäten-Show mit moderner Technomusik, sakraler Kirchenmusik und betörenden Bildern von historischen Gebäuden, Jahrhunderte alter Architektur, in denen er das wilde und vollkommen sinnfreie Treiben stattfinden lässt.

Von der Presse zwiespältig aufgenommen wurde auch die deutsche Koproduktion „Michael Kohlhaas“ (Polyband) nach der Novelle von Kleist, die der französische Regisseur Arnaud des Pallières nach Navarra verlegt und damit auf Henry IV., die Hugenottenkriege und ein vorrevolutionäres Frankreich verweist. Ein wie immer beeindruckender Mads Mikkelsen, der hier schon im letzten Jahr für seine schauspielerische Leistung in „Die Jagd“ ausgezeichnet wurde, gibt der Parabel um einen Pferdehändler, der sein Recht auch gegen die Obrigkeit einfordert, eine eindrucksvolle Tiefe, die das Verhältnis zwischen Macht und Widerstand auslotet und Bezüge zur heutigen Zeit (arabischen Frühling) zulässt und nach der Meinung unserer Redaktion absolut kinotauglich ist.

Die hohen Erwartungen erfüllen konnte „Inside Llewyn Davis“ (StudioCanal) von den Coen-Brüder, in dem Oscar Isaac, der bisher nur in Nebenrollen, wie zum Beispiel in „Drive“ oder Madonnas „W.E.“ zu sehen war, an der Seite von Carey Mulligan und Justin Timberlake die erste Geige spielen konnte. Ausgezeichnet wurde der Film dann zu Recht mit dem Grand Prix. Isaac spielt Llewyn Davis, einen ebenso leidenschaftlichen wie mittellosen jungen Songpoeten, der wie viele andere in Greenwich Village von Club zu Club zieht und auf den großen Durchbruch wartet. Obwohl es dazu nie kommen wird, gelingt den Coens mit ihrer kleinen, aber liebevollen Hommage an die New Yorker Musikszene der frühen sechziger Jahre, in der die Folkmusik aufblühte, wieder einmal ein atmosphärisch dichter Film, voll lakonischen Humors mit eleganten wunderschönen Bildern eines New York, das beginnt, den Muff der fünfziger Jahre abzustreifen und musikalisch zu neuen Ufern aufbricht. Ähnlich wie in „O Brother, Where Art Thou?“ verarbeiten die Coens hier wieder ihre Faszination für den Stoff der Homerschen Odyssee und lassen den wunderbaren Antihelden Llewyn von Couch zu Couch irren, auf der leicht verbitterten Suche nach Anerkennung und Erfolg, die sich einfach nicht einstellen wollen, weil er seiner Zeit voraus ist, vielleicht aber auch weil er durchaus kein völlig sympathischer Zeitgenosse ist, was ihn zu einer spannenden, ambivalenten Figur macht. Die filmische Zeit ist ebenfalls äußerst raffiniert konzipiert und lässt zum Schluss noch einigen Raum für Spekulationen. Heimlicher Star des Films ist jedoch eine wunderschöne rot-getigerte Katze, die es laut eigenem Bekunden auf der Pressekonferenz nur deshalb in den Film schaffte, weil den Coen-Brüdern ihr eigener Plot etwas zu dünn war.

Einen dünnen Plot weist auch Jim Jarmuschs „Only Lovers Left Alive“ (Pandora) auf. Und ähnlich wie die Coen-Brüder weiß er ihn geschickt mit Charme und Nostalgie zu füllen. Jarmusch erzählt von der Wiedervereinigung des zutiefst deprimierten Underground-Musikers Adam aus Detroit mit seiner in Tanger lebenden starken und geheimnisvollen Geliebten Eve. Sie sind Vampir-Bohemiens des 21. Jahrhunderts, die sich nur noch aus stylisch servierten Blutkonserven ernähren, die sie in Speziallabors zubereiten lassen. In der freien Wildbahn ist viel zuviel verseuchtes Blut unterwegs, ein Risiko, dass sie besser nicht eingehen wollen. Sie leben zurückgezogen mit der ständigen Angst vor der Entdeckung und haben sich sehr stilvoll eingerichtet. Während Adam seiner Leidenschaft für Technik nachgeht und E-Gitarren der ersten Generation sammelt, frönt Eve der Literatur. Bücher liest sie in allen Sprachen, in dem sie einfach nur mit dem Finger über Zeilen fährt. Die traute Zweisamkeit wird allerdings auf die Probe gestellt, als Eves wilde Schwester erscheint und das Leben der beiden Bohemiens gründlich auf den Kopf stellt. Was diesem Film an Plot fehlt, gleicht Jarmusch mühelos mit einer liebevollen Ausstattung, seiner bekannt lakonische Erzählweise und allerlei Zitaten aus der Literaturgeschichte und Musikwelt aus.

Ein ebenso überraschendes wie wunderschönes Wiedersehen mit Bruce Dern gab es in Alexander Paynes wunderbarem Roadmovie „Nebraska“, für das Dern den Preis als Bester Schauspieler erhielt. Er spielt einen alten Mann aus Montana, der an beginnender Demenz leidet und den seine Familie am liebsten ins Heim abschieben würde. Immer wieder rückt er von zu Hause aus, um einen angeblichen Millionengewinn, den ein Werbeschreiben verspricht, in Nebraska abzuholen. Einer seiner beiden Söhne erklärt sich schließlich bereit, den vermeintlichen Gewinn mit dem Vater abzuholen, nicht ohne den Hintergedanken, dass dies die letzten gemeinsamen Tage mit ihm sein könnten. Zugegeben nicht ganz neu, dieser Plot, aber Payne erzählt die Geschichte mit so wunderbaren Bildern, dass er sie in Schwarzweiß zeigt, damit man sich nicht übermäßig in sie verliebt. Auch beweist er Mut zur Langsamkeit und legt ein Tempo vor, wie wir es vielleicht zuletzt in David Lynchs „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“ gesehen haben. Genug Zeit also, um dem Zuschauer die einzelnen Charaktere ans Herz zu legen und ein Wiedersehen mit dem 80-jährigen Bruce Dern, dessen Spiel einem das Wasser in die Augen treibt.

Krönender Abschluss des diesjährigen Festivals war der letzte Film des Wettbewerbs von Altmeister Roman Polanski. Mit „Venus im Pelz“ (Prokino) inszeniert er nach dem Theaterstück von David Ives, das auf den Roman von Sacher Masoch zurückgeht, eine amüsant-erotische Farce um ein Vorsprechen am Theater. Ähnlich wie in „Der Gott des Gemetzels“ beschränkt er sich auf einen Raum, hier das Theater, und diesmal sogar auf nur zwei Darsteller. Matthieu Amalric – mit einer Frisur, die an den jungen Polanski erinnert – spielt den Regisseur und Emmanuelle Seigner – im wirklichen Leben Polanskis Ehefrau – die Schauspielerin, die hier als ‚femme fatale’ nicht nur die Geschlechterrollen, sondern auch das Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspielerin, Leben und Theater ordentlich durcheinander wirbelt. Das alles ist mit so viel Schwung und Eloquenz inszeniert, dass es wie schon in „Der Gott des Gemetzels“ eine Freude ist, dabei zuzusehen und zuzuhören.

So brachte Cannes nach anfänglichen Schwächen doch noch einen recht starken Jahrgang hervor und auch die deutschen Verleiher haben ordentlich eingekauft, so dass man sich auf einen starken Kinoherbst freuen darf.

Silvia Bahl

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