Sie besuchen eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Die Kunstwerke überraschen Sie, teilweise sind Sie beeindruckt, manchmal auch erschreckt und fragen sich bisweilen, was ist die Intention des Künstlers? Die Ausstellung weckt Ihr Interesse, sie entdecken Neues und wähnen alsbald den Besuch für beendet. Sie freuen sich auf den Kaffee und den Kuchen im Museumscafé. Plötzlich bewegt sich eine Person des Aufsichtspersonals durch den Raum und stellt sich vor eine weiße Wand, an welcher zufälligerweise kein Bild hängt. Die Person beginnt, lasziv ihren Körper zu bewegen, das Halstuch und nach und nach andere Kleidungsstücke abzulegen und vollzieht einen Striptease, bei dem nicht alle Hüllen fallen. Sie wären überrascht, oder?
Das Objekt ist der Idee untergeordnet
So geschehen in der Ausstellung „Neugierig. Kunst des 21. Jahrhunderts aus privaten Sammlungen“, die am 28. Januar eröffnet wurde und bis zum 2. Mai in der Kunst- und Ausstellunghalle Bonn zu sehen ist. Die Performance ist dem Konzeptkünstler Tino Sehgal zuzuschreiben, der als jüngster Künstler (geb. 1976 in London) derzeit eine Einzelausstellung im Museum of Modern Art in New York zeigt. Sehgal ist deutsch-britischer Konzeptkünstler. Die Konzeptkunst, die auf den Amerikaner Sol le Witt zurückgeht, hält die Idee, das Konzept für wesentlich, die Ausführung, das Objekt ist der Idee untergeordnet. Die Ausstellung in Bonn zeigt Arbeiten von Künstlern, die klare Konzeptionen und Strategien verfolgen. Besonders ist dabei, dass hier der Kunst aus privaten Sammlungen eine Ausstellungsplattform geboten wird. Bonn hat mit 15 privaten Sammlungen aus Deutschland (12), der Schweiz (1) und Frankreich (2) eine Schau konzipiert, die richtungsweisend für das neue Jahrhundert sein soll. Gemeinsam ist den Künstlern wie z. B. Fischli/Weiss, Hanne Darboven und Jack & Dinos Chapmann sowie 54 weiteren KünstlerInnen, dass sie in den 1960er und 1970er Jahren geboren wurden und ihre Werke hier nicht von öffentlicher, sondern von privater Hand aufgekauft wurden. So entsteht eine gewagte und spannende Schau, die sich Museen zukünftig in dieser Form vielleicht nicht mehr leisten können.
Überraschungsmoment durch zweiteilige Präsentation
Die Arbeit der Künstlergruppe Gelitin „Operation Rose“ (Sammlung Antonine de Galbert, Paris) zeigt ein skurriles Labor mit einem riesigen Stoffhasen, der bereits seziert seine Gedärme aus dem fülligen Körper hängen lässt. Reagenzgläser konservieren Puppen und deren Gesichter, ein Stoffteddy wird durch einen Fleischwolf gedreht. Eine Installation, deren Betrachtung viel Zeit in Anspruch nimmt und den narrativen Kunstcharakter hervorhebt. Der Totenkopf mit Teufelshörnern und Segelohren aus Keramik von Jack & Dinos Chapman (Sammlung Olbricht) mit dem Titel „Hungersnot“ wird von Würmern, Maden und Fliegen aufgefressen. Die Arbeit des Künstlers Pierre Joseph, „Der tote Toreador“ (Collection Marc et Josée) überrascht den Besucher dadurch, dass das Werk zweiteilig präsentiert wird. Zum einen besteht es aus einer Farbfotografie, die einen liegenden toten Toreador zeigt. In einem vorgegebenen Rhythmus wird die Fotografie abgehängt und die abgebildete Szenerie mit einer realen Person im Originalkostüm nachgestellt. Filmkunst aus der Sammlung Julia Stoschek Foundation e.V. sieht man von Doug Aitken, Heike Baranowsky, John Bock u.v.m. Auch der Südafrikaner William Kentridge, der 2002 an der Documenta teilnahm, gehört zu der Gruppe der Filmkünstler. Die Arbeit von Birgit Brenner „Die Besten Jahre“ (About Change, Collection) zeigt eine Installation, die überdimensional raumeinnehmend ist und unangenehme Gefühle hervorruft (siehe Foto). Ein leinwandgroßes Foto, einem Filmstill ähnlich, zeigt eine auf einem Bett regungslos liegende Frau. Rechts im Bild sieht man die Hand eines stehend rauchenden Mannes. Ein Hinweisschild besagt: „Niemand sieht es.“ Weiter im Raum findet man große Schilder, die besagen „Geh weg.“, „Du widerst mich an.“ Ein beklemmendes Gefühl beschleicht einen bei dieser Darstellung der „besten Jahre“. Ganz anders als das ruhende Kind („Deathwatch“ von Lucy McKenzie) auf dem Ausstellungsplakat, das seinen wohlverdienten Schlaf nach anstrengendem Herumtoben im Kinderwagen hält, wird der Besucher dieser Ausstellung nicht müde, sich immer wieder auf die neuen, irritierenden, zum Teil etwas trockenen aber überwiegend überraschenden Kunstwerke einzulassen. Gar nicht langweilig. Eine gelungene Kooperation zwischen privaten Sammlern und der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland.
„Neugierig“
bis 2.5. in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn www.bundeskunsthalle.de
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