Es gebe ein Pädophilie-Netzwerk, das aus den Räumlichkeiten einer Washingtoner Pizzeria heraus betrieben wird. Es seien Vertraute der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, die in diesem Netzwerk agierten, sie sei in den kinderpornographischen Ring verstrickt. Das sind die Kernaussagen, die 2016 unter dem Hashtag „Pizzagate“ binnen kürzester Zeit in den Sozialen Medien, allen voran Reddit und Twitter, verbreitet wurden. Befeuert wurde das Ganze durch einen Tweet des US-Unternehmers David Goldberg: Die New Yorker Polizei hätte #Pizzagate bestätigt. Was sie zu keinem Zeitpunkt tat. Es gipfelte darin, dass der 28-jährige Edgar Welch mit einem Sturmgewehr die besagte Pizzeria stürmte, um im Keller gefangene Kinder zu befreien, von denen er im Zuge von #Pizzagate gelesen hatte. Als er keine Kinder vorfand, ließ er sich verhaften, glücklicherweise wurde niemand verletzt.
#Pizzagate ist eine der größten Fake News-Kampagnen unserer Zeit – und sie zeigt, wie schnell ein Gerücht im Netz zu einer vermeintlichen Wahrheit wird, die fatale Folgen haben kann. Der postkonzeptuelle New Yorker Künstler Warren Neidich hinterfragt mit seiner nach der Schmutzkampagne benannten Ausstellung, ob sich durch das mittels Fake News produzierte Interesse auch die materielle Struktur unseres Gehirns verändert. Seine Installationen sind derzeit im Kunstraum Fuhrwerkswaage in Köln-Sürth zu sehen und bestechen durch Details: Das wohl imposanteste Werk ist die große, dreidimensionale Skulptur, die Begriffe und Akteure von #Pizzagate in Neonschriften miteinander verknüpft. Die Pfeile zwischen den Namen und Worten erinnern an die Mindmap eines Kriminalfalls. Beim Betrachten springen die Augen zwischen „clickbait“, „Edgar Welch“, „cognitive capitalism“ und „spirit cooking“ hin und her. Und man bekommt ein ganz eigenes Gefühl dafür, wie Unwahrheiten im Netz zu Verschwörungstheorien werden, wie diese in ihren Strukturen funktionieren und auf welche Weise sie – sowohl im Internet selbst als auch in der eigenen, inneren Architektur – ausgebreitet werden.
Begleitet wird die Neon-Skulptur von der Video-Installation „Pizzagate: From Rumor To Desillusion“, die Film-, Bild- und Soundcollagen zur Thematik miteinander vereint. Die dritte Arbeit von Warren Neidich, die die Ausstellung komplettiert, ist ein zunächst simpel wirkender, einzelner Schriftzug aus Neonbuchstaben: „Dis-Solidarity“. Dabei fällt auf, dass der erste Teil des Wortes als einziger farblos gestaltet ist – und sich, während die Buchstaben in „Solidarity“ durchgehend bunt leuchten – immer wieder aus und an schaltet.
Warren Neidich verknüpft seine Kunst mit neurobiologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und Untersuchungen. Er widmet sich damit der aktivistischen Neuroästhetik, die davon ausgeht, dass sich Veränderungen in der gesellschaftspolitischen und kulturellen Umgebung auf die Neuroplastik des menschlichen Gehirns auswirken. Die Kernfrage lautet also: Wie verändern neue gesellschaftspolitische, technische und mediale Phänomene wie #Pizzagate unsere Hirnstrukturen – und damit unsere Verarbeitung und Reaktion auf ähnliche Dinge in der Zukunft?
Pizza Gate | bis 26.3., Fr 16-19 Uhr, Sa, So 14-18 Uhr | Kunstraum Fuhrwerkswaage | www.fuhrwerkswaage.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Was ist ,analoger‘ als der menschliche Körper?“
Kuratorin Elke Kania über „Zeit-Bilder.“ im Aachener Kunsthaus NRW Kornelimünster – Interview 01/25
Mehr als Bilder an der Wand
„Museum der Museen“ im Wallraf-Richartz-Museum – kunst & gut 12/24
Vorgarten der Unendlichkeit
Drei Ausstellungen zwischen Mensch und All – Galerie 12/24
Vorwärts Richtung Endzeit
Marcel Odenbach in der Galerie Gisela Capitain – Kunst 11/24
Mit dem Surrealismus verbündet
Alberto Giacometti im Max Ernst Museum Brühl des LVR – kunst & gut 11/24
Außerordentlich weicher Herbst
Drei Ausstellungen in Kölner Galerien schauen zurück – Galerie 11/24
Fragil gewebte Erinnerungen
„We are not carpets“ im RJM – Kunst 10/24
Geschichten in den Trümmern
Jenny Michel in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 10/24
Ein Himmel voller Bäume
Kathleen Jacobs in der Galerie Karsten Greve – Kunst 09/24
Leben/Macht/Angst
„Not Afraid of Art“ in der ADKDW – Kunst 09/24
Lebenswünsche
„Körperwelten & Der Zyklus des Lebens“ in Köln – Kunst 09/24
Die Freiheit ist feminin
„Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum – Kunstwandel 09/24
Atem unserer Lungen
„Body Manoeuvres“ im Skulpturenpark – kunst & gut 09/24
Die Absurdität der Ewigkeit
Jann Höfer und Martin Lamberty in der Galerie Freiraum – Kunstwandel 08/24
Vor 1965
Marcel van Eeden im Museum Schloss Morsbroich in Leverkusen – kunst & gut 08/24
Atem formt Zeit
Alberta Whittle in der Temporary Gallery – Kunst 07/24
Niemals gleich
Roni Horn im Museum Ludwig – kunst & gut 07/24
Tage des Schlafwandelns
„Übergänge des Willens“ im KunstRaum St. Theodor – Kunstwandel 07/24
Das Gewicht der Gedanken
„scheinbar schwerelos“ im Zündorfer Wehrturm – Kunst 06/24
„Welche Wahrheit trauen wir Bildern zu?“
Kurator Marcel Schumacher über „Ein Sommer in vier Ausstellungen“ im Kunsthaus NRW in Aachen – Interview 06/24
Alle sind älter
Porträts über das Alter in der Photographischen Sammlung im Mediapark – kunst & gut 06/24
Suche nach Menschlichkeit
Burkhard Mönnich in der Galerie Martinetz – Kunst 05/24
Anpassung und Eigensinn
„1863 – Paris – 1874: Revolution in der Kunst“ im Wallraf-Richartz-Museum – kunst & gut 05/24
Steigen, Verweilen, Niedersinken
Nadine Schemmann mit zwei Ausstellungen in Köln – Kunstwandel 05/24
Berührungsängste verboten
„Memory is not only past“ in der ADKDW – Kunst 04/24