Über 40 Milliarden Feldpostbriefe wechselten in den Jahren des Zweiten Weltkriegs zwischen Soldaten an der Front und Familien an der sogenannten Heimatfront die Besitzer. Ein großer Teil davon kam auch aus und nach Köln. Berichte über Kriegserlebnisse, Alltagserfahrungen oder Meldungen über gefallene Familienangehörige. Ein Mosaik aus Einzelschicksalen vereint durch das gemeinsam Erlebte. Das alles stellt das NS-Dokumentationszentrum aktuell im EL-DE-Haus aus. Unter dem Titel „Kriegserfahrungen 1933-1945 – Kölner und Kölnerinnen an Front und Heimatfront“ zeigt man Fotos, Briefe, und Überbleibsel von lokalen Familien.
„Das Besondere ist die Verbindung zwischen individuellem Schicksal und der gleichzeitigen Involviertheit der Gesamtbevölkerung“, beschreibt Kuratorin Dr. Karola Fings die Sonderausstellung anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls auf Polen. „Alle Exponate, Schriftstücke und Fotos stammen von über 300 Privatpersonen.“ Dieses intime Element wirkt besonders stark bei den Briefen und Tagebüchern, noch mehr als es Fotos vermögen. Denn sie erzählen Geschichten von Menschen – Täter und Opfer – deren Welt langsam um sie herum zusammenbricht, nicht nur metaphorisch, mit der Erkenntnis, dass alle Propaganda gelogen war, sondern auch buchstäblich mit jedem weiteren Bombenregen auf die Stadt.
Dessen Einfluss ist gut dokumentiert, eine Vitrine zeigt zwei Tortenböden aus Pappe, auf denen ein Bäcker penibel alle Alarme im Jahr 1943 protokolliert hat. Direkt daneben liegt ein Teil einer Fliegerbombe, dessen Größe dem Wort „Splitter“ spottet. Kontrastiert wird der überblicksartige rote Faden der Ausstellung durch die Familienräume, zusammengehörige Tafeln, die Einzelschicksale erzählen. Wie das der Familie Groß, deren Vater Nikolaus Groß als katholischer Arbeiterführer wirkte und 1945 zum Tode verurteilt wurde. Oder der jüdischen Familie Schönenberg, deren Sohn dem Holocaust glücklicherweise durch die Umsicht der Eltern entging, die ihm eine Schlosserlehre in Haifa organisierten. „Obwohl alles Ausgestellte nur aus Köln oder von Kölnern kommt, erzählt es trotzdem die ganze Geschichte des Krieges, das finde ich besonders beeindruckend“, verrät Fings.
Gespendet wurden die Stücke bereits 2005, als die Ausstellung das erste Mal gezeigt wurde. 14 Jahre später hat sie aber nichts an Aktualität verloren. „Wir haben die Exponate nochmal aufgearbeitet, neue Tafeln zusammengestellt und gedruckt und alles neu angeordnet“, sagt Fings. Wer der Ausstellung chronologisch folgt, merkt schnell, wie sich die Stimmung vor, während und nach dem Krieg veränderte. „Man war nicht so euphorisch wie im Ersten Weltkrieg, aber das änderte sich schnell mit den erfolgreichen Überfällen in Polen. Erst mit den Luftangriffen auf Köln beginnt sich die Stimmung zu wandeln“, erklärt die Kuratorin.
Eine Installation von Ulrike Oeter ergänzt die fast ausschließlich aus Bild-und Texttafeln bestehende Ausstellung um eine weitere Möglichkeit die Kriegserfahrungen zu begreifen und zeigt zum Beispiel die Namen der Deportierten aus der Roonstraße auf kleinen Täfelchen, sowie die Rekonstruktion mehrer Tagebücher aus dem belagerten Leningrad. Auch mehrere Esstische, die jeweils die Feldküche, die heimatliche Küche und ein Esszimmer darstellen und auf denen weitere Schriftstücke ausgebreitet sind, bieten Abwechslung im Ausstellungsraum.
Beim Dokumentationszentrum ist man über das rege Interesse an der Ausstellung glücklich. „Wir haben in den letzten Tagen bereits viele Besucher gehabt, vor allem auch aus der Erlebnisgeneration um den Jahrgang 1930 herum, was mich freut“, erzählt Fings. Eine Sache zeigt die Schau besonders eindrucksvoll: Die Zerstörung Kölns wäre ohne die Machtergreifung 1933 nicht denkbar.
Kriegserfahrungen 1933-1945 | bis 3.11. | NS-Dokumentationszentrum | 0221 22 12 63 32
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