Wirtschaftsdenker und -lenker verweisen angesichts von multiplen Krisen (Klimakrise, Post-Pandemie-Krise, Energiekrise, Strukturkrise, Schulden-/Finanzkrise usw.) immer wieder auf das zum Mythos geronnene „Wirtschaftswunder“ in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aber können Konzepte von gestern die Zukunft von morgen in der BRD gestalten und für einen wirtschaftlichen und sozialen Aufbruch sorgen? Immerhin, von 1950 bis 1973, dem Jahr des ersten Ölpreisschocks, stieg das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (BIP) jährlich im Schnitt um rund fünf Prozent. Eine Wachstumsrate, von der die Ampelkoalition vor ihrem Bruch Anfang November, nur träumen konnte. Müssten wir also nur zur Wirtschaftswunderpolitik à la Ludwig Erhard, der von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister und von 1963 bis 1966 der zweite Bundeskanzler der BRD war, zurückkehren, um „Wohlstand für alle“ – wie der Titel eines Erhard-Bestsellers lautete – schaffen zu können?
Wachstum rundherum
Blickt man auf die Wachstumsraten anderer europäischer Länder relativiert sich die Sache mit dem deutschen Wirtschaftswunder. In Italien stieg das BIP im gleichen Zeitraum um 5 Prozent, in Spanien sogar um 5,8 Prozent und in Frankreich um 4,1 Prozent. Doch womit lassen sich die Wachstumsraten – vor allem jene in Westdeutschland – erklären, wenn nicht mit dem Wirtschaftswunder? Eine einfache Erklärung wäre jene, auf die spezifische, historische Situation hinzuweisen, in der sich vor allem das vom Zweiten Weltkrieg schwer getroffene Westdeutschland damals befand. Nach dem Krieg lagen weite Teile Deutschlands in Trümmern, vor allem die Großstädte und industriellen Zentren. Die Industrieproduktion war am Boden, die Menschen wurden von Hunger und Wohnungsnot gedrückt.
Doch nicht Erhard, sondern die Hilfe der USA, hier ist vor allem der „Marshallplan“ zu nennen, wuppten den Wiederaufbau nicht nur in Westdeutschland, sondern im ganzen vom Krieg zerstörten Westeuropa. Im Falle Westdeutschlands war auch nicht Großzügigkeit mit dem ehemaligen Kriegsgegner Motiv für die Hilfe, sondern eine geostrategische Perspektive: Westdeutschland sollte angesichts des sich gleich nach Kriegsende abzeichnenden Kalten Kriegs im westlich-nordatlantischen Einflussbereich gehalten und gegen die Sowjetunion und ihre verbündeten Satellitenstaaten in Stellung gebracht werden. Um dies wirtschaftspolitisch zu flankieren, wurde die Währungsreform 1948 von den Alliierten vorgenommen, die Staatsschulden wurden Deutschland 1953 auf der Schuldenkonferenz in London zu einem großen Teil erlassen. Die europäische Zahlungsunion, die die Abhängigkeit vom US-Dollar in der Abwicklung des europäischen Handels reduzierte, wurde ebenfalls von den USA eingeführt – gegen den Widerstand Erhards.
Bis zum Streik
Erhard hingegen sorgte für Chaos: Als „Direktor für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets“ – also der sogenannten Westzone – im Sommer 1948 gab er in seinem naiven Glauben an Marktkräfte die Preise frei. Die Folge: Eine sehr hohe Inflation, die sich vor allem bei den Lebensmittelpreisen niederschlug, was einen Generalstreik nach sich zog.
Wer heute also nostalgische Gefühle hinsichtlich der Wirtschaftswunder-Zeit hat, sollte bedenken, dass das Fundament des Wirtschaftswachstums ein durch einen verheerenden Krieg zerstörtes Land sowie das geostrategische Kalkül der Siegermacht USA war, die sich damals vor einem Krieg mit der Siegermacht UdSSR wähnte.
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