Montag, 10. Oktober: Zwölf Jahre lang hatte die Regisseurin Annette Ernst („Kiss and Run“) ein lesbisches Paar mit Kinderwunsch mit der Kamera begleitet. Drei Kinder haben Anny und Pedi in dieser Zeit gemeinsam großgezogen, allesamt durch Insemination mit dem über eine Anzeige gefundenen Eike entstanden, der den Kindern bekannt ist, aber nur einige Male im Jahr mit diesen zusammentrifft. Die Idee zum Film kam der nicht-queeren Filmemacherin über eine langjährige lesbische Freundin, deren Lebenskonzept sie ursprünglich dokumentarisch festhalten wollte. Da die Freundin die persönliche Nähe zu Ernst aber als kritisch empfand und sich gegen eine Teilnahme aussprach, fand diese schließlich bei LIBS, der Lesben Informations- und Beratungsstelle in Frankfurt am Main, in Anny und Pedi ein Paar, das sich gerne mit der Kamera beobachten ließ. „Die beiden fühlten, dass sie einen Auftrag für diesen Film hatten, zumal das Thema 2009, als ich mit den Dreharbeiten begann, noch sehr ungewöhnlich war“, erzählte die Regisseurin bei der Vorstellung ihres Films "Mutter Mutter Kind" im Rahmen der bundesweiten Preview-Tour in der Filmpalette in Köln. Moderiert wurde die Veranstaltung von Steff*an Meschig vom Kölner Beratungszentrum rubicon e.V., das sich gesamtgesellschaftlich für die Gleichstellung verschiedener Lebensformen, für Selbstbestimmung und die Anerkennung vielfältiger Identitäten einsetzt.
Auch die andere Seite abbilden
Meschig und der rubicon-Kollege Ines-Paul Baumann, der ebenfalls im Publikum saß, fanden an „Mutter Mutter Kind“ problematisch, dass Annette Ernst die dokumentarischen Szenen mit künstlerisch verfremdeten Spielszenen unterfüttert hatte, in denen eine Mutter und ein Therapeut konservative Ansichten zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in einem leeren Theater diskutierten und damit zahlreiche homophobe Aussagen zu Gehör bringen, die in der Gesellschaft nach wie vor weit verbreitet sind. Ernst erläuterte dazu: „Ich wollte diese andere Seite auch im Film abbilden, damit man sich daran reiben und sich auch mit ihr auseinandersetzen kann. Ich hätte zwar gerne auf diese Kehrseite verzichtet, aber diese unter den Teppich zu fegen ist viel gefährlicher, weil es da dann gärt.“ Außerdem nutzte die Regisseurin diese Spielszenen, um Ansichten von Teilen der Familie der beiden Protagonistinnen erfahrbar zu machen, wenn sich die entsprechenden Personen nicht bereit erklärten, diese vor der Kamera zu äußern. So finden sich in Ernsts Film beispielsweise auch die Aussagen eines erzkonservativen Therapeuten wieder, den sie bei ihren Recherchen zum Film kennengelernt hatte. Da auch er sich weigerte, vor der Kamera zu sprechen, hat sie seine Ansichten dem Schauspieler Marc Oliver Schulze in den Mund gelegt, der diese in den Spielszenen nahezu 1:1 wiedergibt. Die rubicon-Mitarbeiter sahen das kritisch, zumal sich in den letzten Jahren einiges verändert habe und man auch die fortschrittlichen Ansichten anderer Therapeuten im Film hätte abbilden müssen.
Keine Zuckerguss-Variante
Eine weitere zwiespältige Figur im Film ist Carsten, Annys Bruder, der zu Beginn der Dreharbeiten konservativ bis homophob auftritt, im Laufe der zwölf Jahre aber eine positive Wandlung durchläuft, und für die Kinder des lesbischen Paares zu einer wichtigen Bezugsperson wird. Jutta Feit vom Filmverleih JIP, die Annette Ernst auf ihrer Kinotour begleitet, unterstrich beim Filmgespräch, dass in diesen vergangenen zwölf Jahren auch gesamtgesellschaftlich eine Entwicklung stattgefunden habe, die sich in Carstens Ansichten widerspiegele. Ergänzend fügte Feit hinzu: „Das ist ein begleitender Dokumentarfilm, der eine Realität abbildet, die nicht immer leicht auszuhalten ist.“ Auch ein Zuschauer, der sich als nicht-queer definiert, merkte an, dass „Mutter Mutter Kind“ sein Bild von einer queeren Familie positiv verändert habe. Viele heterosexuelle Menschen hätten vermutlich, genau wie er, aufgrund mangelnder Erfahrungen Berührungsängste und Fragen zur Thematik, die aber nicht zwangsläufig homophob wären. Zum Abschluss der lebhaften und kontroversen Diskussion betonte Filmemacherin Ernst noch: „Ich wollte mit dem Film eine positive Message in die Welt senden, weil ich in dieser Familie sehr viel Liebe gesehen habe, ich aber trotzdem total dagegen war, eine reine Zuckerguss-Variante der Geschichte zu erzählen. Außerdem wollte ich auch keine Familie zeigen, die defizitär ist, weil das homophobe Menschen in ihren Ansichten nur wieder bestärkt hätte. Auf jeden Fall habe ich durch diese Diskussion einen Blick auf meinen Film bekommen, den ich zuvor noch nicht hatte.“ Ab dem 20. Oktober ist „Mutter Mutter Kind“ dann bundesweit in den Kinos zu sehen.
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