„Untergang des Abendlandes. Ist die literarische Bildung am Ende?“, so der provokative Titel der Diskussionsrunde, die am Freitagabend die Aula der Kunsthochschule für Medien bis auf den letzten Platz füllte. „Diese rhetorische Figur kann man natürlich auch als Kalauer lesen“, erklärte Hans Ulrich Reck, Rektor der KHM und Moderator des Abends: „Wir kennen das: Ach geht schon wieder das Abendland zu Grunde! Kaum gibt es eine kleine Krise, schon werden die Untergangsszenarien ausgemalt.“ Schon im Vorfeld gab man sich redliche Mühe, den Vorwurf des Kulturpessimismus zu entkräften.
Nun ist Kulturpessimismus aber an sich noch nichts Schlechtes, solange er fundierte Argumente und Diagnosen liefert. Dies wurde dann auch von der prominent besetzten Diskussionsrunde in Angriff genommen. Zugegen waren: die Schriftsteller Navid Kermani und Ulrich Peltzer, die seit letztem Semester auch Dozenten des neuen literarischen Studiengangs an der KHM sind, Kultusministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, FAZ-Kulturjournalistin Sandra Kegel und einige andere Dozenten der KHM.
Sandra Kegel erklärte: „In den letzten Jahren sind dem deutschen Buchmarkt 6,5 Millionen Leser weggebrochen. Die Buchhandlungen und Verlage können kaum noch überleben. Im Verlagswesen will darüber kaum jemand öffentlich reden, aus Angst, dass man dem Buch so den Todesstoß versetzt. Stattdessen üben sich die Verlage in Aktionismus. Man wirft massenweise Titel auf den Markt.“ Schnell wurde man sich einig über den beklagenswerten Zustand des Buchmarktes. Auch in Sachen Bildung, so der Tenor, sehe es nicht besser aus. Das Lesen, so Kermani, werde einem in der Schule ausgetrieben. Statt freien und leidenschaftlichen Diskussionen über Literatur gäbe es Anforderungskataloge und Lektüreschlüssel. Begeisterung für Kafka oder Dostojewski komme so kaum auf. Kinder würden durch das Heranwachsen mit Smartphone und Social Media einer ständigen Selbstkontrolle ausgesetzt. „Der ungesellige Akt des Lesens wird verunmöglicht“, so Peltzer. „Die Kinder unterliegen dem Imperativ der Kommunikation. Da ist das Lesen schon fast ein Akt des Widerstands.“ Auch die Digitalisierung der Schule wurde kritisch beleuchtet: „Was passiert denn wenn die Tablets in den Unterricht kommen?“, fragte Sandra Kegel. „Die Lehrer werden degradiert zu Operateure technischer Hardware. Wir brauchen aber gute Deutschlehrer und nicht Deutsch-Tablets.“
Und so waren sich die Diskutanten nach einer knappen Stunde ob der bedauernswerten Situation schnell einig. Problematisch wird der Kulturpessimismus aber dann, wenn er in Selbstmitleid umschlägt und progressive Entwicklungen verkennt. Glücklicherweise kam aus dem Publikum dann doch Widerspruch, der die Diskussion anregte und andere Perspektiven eröffnete. Eine junge Frau, die passenderweise in einer Firma für Lernsimulationen arbeitet, erzählte aus ihrem Leben: Ihre Eltern kamen aus dem Iran nach Deutschland. In der Schule hatten sie und ihre Geschwister aufgrund von Sprachbarrieren oft Probleme dem Unterricht zu folgen. „Wie schön wäre es da gewesen, wenn meinen Geschwistern und mir ein iPad gegeben wurde und wir damit den Unterricht hätten übersetzen können? Mir gefällt es nicht, wie sehr die Digitalisierung hier verteufelt wird.“
Auch Ulrich Peltzer erntete Widerspruch, als er vor der neuen Konkurrenz von Netflix und Co. warnte, die den Roman als künstlerische Form nicht ersetzten könnten: „Serien können keine komplexen narrativen Strukturen liefern. Bei den ‚Sopranos‘ oder ‚Breaking Bad‘ weiß man nach fünf Folgen was passiert. Das kann man nicht mit einem Dostojewski vergleichen.“ Ein Zuschauer, der sich als Hochschuldozent für Altgermanistik vorstellte und so kaum als Literaturfeind in Verdacht geraten könnte, erwiderte: „Das was wir hier die ganze Zeit als Lesen bezeichnen, meint glaube ich zwei Dinge. Das Eine ist das Narrative. Lange Zeit war der Roman der Ort dafür. Das Interesse am Narrativen ist aber weiterhin noch sehr hoch. Die moderne Serie übernimmt die narrativen Strukturen des Gesellschaftsromans. Das funktioniert dort auch wunderbar. Das Zweite ist die ästhetische Wahrnehmung einer bestimmten Kunstform, wie die Musik der Moderne, der Jazz oder eben die Literatur.“ Nehme das Interesse an der Kunstform ab, hieße das nicht, dass gleichzeitig das Narrative sterbe.
Also doch lieber die Sopranos als Dostojewski? Der Verdacht des Kulturpessimismus schienen einige Zuschauer zumindest bestätigt zu sehen. Einer sprach von „Neoreaktionärer, humanistischer Festhalterei“ und brachte damit dann endgültig eine Emotionalität in die Debatte, mit der man nach der ersten halben Stunde nicht unbedingt rechnen konnte. Isabel Pfeiffer-Poensgen versuchte zwischenzeitlich zu vermitteln und pragmatisch zu denken: „Sicherlich haben wir einen verengten Blick. Für die große Mehrheit der Bevölkerung hat das Lesen nicht die größte Priorität. Wir müssen aber trotzdem versuchen die Leute zu begeistern und anzustecken mit unserer Leidenschaft. Auch wenn es naiv kling: Wir müssen den Kindern wenigstens zeigen, dass es die Literatur gibt und erklären: ‚Guck mal, damit kannst du dich auch beschäftigen.‘“
Eines zeigte die Diskussion an der KHM auf jeden Fall: Die Literatur bleibt, allen Unkenrufen zum Trotz, auch im 21. Jahrhundert ein spannendes Diskursfeld. Zumal, wenn sie von solch leidenschaftlichen Protagonisten gestaltet und vermittelt wird. Und selbst wenn nicht: Es gibt immer noch die Sopranos. Auch wenn es vielleicht mehr als fünf Folgen braucht, um sie zu verstehen.
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