Letzten Monat hab’ ich noch gegen den unchristlichen Konsumterror gewettert und dann das: Ich stehe mitten auf’m Weihnachtsmarkt und lass mich von Räuchermännchengestank und Heiligabendmuzak einlullen. Und vom Glühwein. Ich bin beeindruckt von der Frieden stiftenden Wirkung, ohne die sich all die Geschenkjäger an die Gurgel gehen würden. Das Pärchen aus Schleswig an meinem Stehtisch sieht das auch so und bezieht mich in seine feucht-fröhliche Menschenliebe ein. Da darf ich als Humanist doch nicht Nein sagen – mit dem erfreulichen Ergebnis, dass der Drogencocktail seine den Kaufrausch anheizende Absicht torpediert. Der Getränkestand schließt, die Einkaufstaschen der Weihnachtsmarkt-Touristen aus dem hohen Norden sind immer noch leer, und ihr Zug geht in ’ner halben Stunde. Zum Trost verspreche ich, den Link zu meiner alljährlichen Last-Minute-X-Mas-Kolumne zu mailen und überlasse ihnen mein Leseexemplar von Sophie Andreskys„Schrille Nacht“ (Haffmans & Tolkemitt): eine feucht-frivole Anleitung, das heilige Fest mal anders zu begehen …
Ladies’ Toys: Olga Flor „Die Königin ist tot“ (Zsolnay) – Mit Ehrgeiz und Berechnung angelt sich Lilly einen amerikanischen Medientycoon, der sie unvermeidlich durch eine Jüngere ersetzen wird. Zeit, die Messer zu wetzen. / Helen Hodgman „Gleichbleibend schön“ (Knaus) – Alles wie gemalt, der Strand, die Häuser, die Ehe. Von wegen. Um dem blutleeren Leben zu entgehen, stürzt sich die Erzählerin dienstags und donnerstags in verzweifelte Affären, bis ihr auch diese Ausbruchsmöglichkeit verwehrt wird.
Con cojones: Radek Knapp „Reise nach Kalino“ (Piper) – Bisher war Polen nicht für gewitzte Kriminalliteratur bekannt, das sollte sich mit dem Gentleman-Detektiv Julius Werkazy ändern. Ein bisweilen geradezu surrealistisches Schelmenstück. / Ken Bruen „Jack Taylor geht zum Teufel“ (Atrium) – Irisch, zotig, derb. Die süffisanten Private-Eye-Romane des Bukowskis unter den Krimiautoren würde man am liebsten im Sixpack kaufen. Aber ’ne Kiste Bier zu jeder Neuerscheinung tut’s auch.
Stoff für Generationen: Anna Stothard „Pink Hotel“ (Diogenes) – Während unten der Totenwachenpartymob tobt, loggt sich obendrüber die Tochter in die schillernd-exzentrische Vergangenheit ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. / Patrick Findeis „Wo wir uns finden“ (DVA) – Diese Vater-Sohn-Tragödie ist ein echter Rohdiamant der jüngeren deutschen Literaturszene. Voller Abgründe, Sehnsüchte und unheilvoller Liebe. Und brillant ungeschliffen.
Für Kids: Strich/Hauptmann „Das große Märchenbuch“ (Diogenes) – Unverzichtbares Vorlesewerk, zumal sich zwischen den gesammelten deutschen Klassikern auch so manches Kleinod aus anderen Kulturkreisen findet. / Felix Salten „Bambi“ (Unionsverlag) – Es muss nicht immer Disney sein. Der tragisch-anrührende Entwicklungsroman aus dem Tierreich lässt im Winter zumindest die Herzen dahinschmelzen. / Krogerus/Tschäppeler/Lopetz „Kinderfragebuch“ (Kein & Aber) – Als Elternteil will und sollte man gar nicht lesen, was der eigene Nachwuchs eigentlich so heimlich denkt. Hier kann er’s rauslassen.
Artifiziell: Aravena/Iacobelli „Elemental“ (Hatje Cantz) – Ein Incremental Housing and Participatory Design Manual für „Bauhaus“-Revolutionäre im Heimwerker-Kosmos. / Vahram Muratyan „Paris versus New York“ (Mosaik) – Eine hübsche Grafikdesign-Spielerei, die das eigentümliche Leben der beiden Metropolen schlicht und leicht ironisch konterkariert. / R.L. Stevenson/Wagenbreth „Der Pirat und der Apotheker“ (Hammer) – Ein grandios wüstes Action-Comic-Kinderbuch-Poetry-Spektakel. Nicht nur euch, Sonja und Jürgen: A Happy New Year!
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