Die Erleichterung war groß, als am 23. April deutlich wurde, wer die französischen Präsidentschaftswahlen gewinnen würde: Emmanuel Macron, der sich im Wahlkampf deutlich hinter die europäische Idee stellte und seit seinem Amtsantritt im Mai mit klaren Vorstellungen in erste Abstimmungen mit seinen ausländischen Kollegen zu einer Reformierung der EU eintritt. Auf den neuen konstruktiven Schwung im europäischen Einigungsprozess wies am Mittwoch in erster Linie der dritte Vortragende Claus Leggewie hin, der beim Verfolgen der Wahlergebnisse „Tränen in den Augen“ gehabt habe und nach den unterschiedlichen Erfolgen der Populisten eine Wende eingeläutet sehe.
Trendwende durch Macron?
Im ausverkauften Grünen Saal der Comedia erläutert Leggewie, der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI): „Macron hat sich schon vor seiner Wahl mit Energie an die Hausaufgaben gesetzt, die ihm ein deutscher Finanzminister nicht in Erinnerung rufen und auftragen musste, und einen ganzen Kranz innerer Reformen, vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Angriff genommen.“ Macrons Sieg müsse nun als „europäisches Ereignis begriffen und genutzt“ werden, das dem „Defätismus“ der Populisten entgegenstehe. Die überwundene „autoritäre Welle“ habe die Widerstandskräfte gestärkt. Die Politik solle in diesem „günstigen Moment“ keine „angstvollen Blicke“ mehr nach rechts werfen und sich „vorauseilend anpassen“, sondern AfD und Front National mit einem attraktiven Programm bekämpfen, das der „durchaus vorherrschen“ pro-europäischen Stimmungslage entspreche.
„Vieles kommt nun auf die Reaktionen in Brüssel und Berlin an.“ Claus Leggewie liest mit einer Hand in der Hosentasche weiter aus seinem Buchmanuskript „Europa zuerst. Eine Unabhängigkeitserklärung“ vor, das im Herbst erscheinen soll. „Bundeskanzlerin Merkel, Vertreterin der Hegemonialmacht in der EU, hätte mehr Enthusiasmus und Entgegenkommen zeigen müssen und kann es immer noch. Der Herausforderer Schulz hätte sich erinnern können, woher er eigentlich kommt.“ Leggewie würdigt Macrons Bemühungen, in die „Denkfabriken, Intellektuelle und namentlich pro-europäische Bürgerinitiativen“ bereits einbezogen seien. „Man sollte auch Städtepartnerschaften, Sprachkurse, Jugendaustausch wiederbeleben.“ Anzustreben sei in seinen Augen eine „nachhaltige Bürger- und Sozialunion der europäischen Gesellschaft, in der ökologische Fürsorge, soziale Solidarität und politische Teilhabe zusammengeführt“ würden. Die 1973 eingerichtete KSZE sei in mancher Hinsicht ein „vergessenes Vorbild“ für eine solche Initiative.
Mehr Macht den Bürgern
Hinsichtlich der Europawahl 2019 schlägt Leggewie vor, die wegfallenden 73 britischen Sitze nicht ersatzlos zu streichen, sondern „eine Wahlrechtsreform einzuleiten, die den Europäern zwei Stimmen gibt“: eine für die nationalen Parteien und eine für eine „europaweite Liste, die von Spitzenkandidaten für die Präsidentschaft der Kommission angeführt wird“. Diese müssten unabhängig von ihrer Nation für Europa kandidieren. Es gelte, das allgemein beklagte EU-Demokratiedefizit zu beseitigen und „den Demos“ wachsen zu lassen.
Eine mögliche, positive Rolle eines geeinten, unabhängigen Europas in der Welt sieht Leggewie besonders durch den gemeinsamen Erfahrungsschatz als gegeben und ausbaufähig. „Aus den kapitalen Fehlern lernend und vor ebenso kapitalen Bedrohungen und Herausforderungen stehend, kann ein aufgeklärtes Europa gar nicht anders, als an sein wohlverstandenes und reflektiertes Erbe anzuschließen und dieses in die weltweite Kommunikation und Kooperation einzubringen.“ Dabei denke er unter anderem an verstärkte Initiativen zur Friedensstiftung. Dass Theresa May hingegen einen Sicherheitsstaat aufbauen und „Gewalt mit Gewalt beantworten“ wolle, halte er für den Einstieg in eine neue Gewaltspirale.
Globaler, nicht nur europäischer Regelungsbedarf
Karl Lamers (CDU), der 1994 mit Wolfgang Schäuble ein bekanntes Konzeptpapier zu einem „Kerneuropa“ veröffentlichte, befasste sich in seinem phil.cologne-Vortrag mit der grundsätzlichen Frage geschichtlicher Kräfte. Er zeigte die Zusammenhänge der heutigen Globalisierung samt Flüchtlingsströmen und Terrorismus als eine „Grundgegebenheit“ auf, die im Widerspruch zu territorialen Grenzen stehe. „Der Versuch, sich vor dieser ‚einen Welt‘ zu verkriechen, sich abzuschneiden, sich die nationale Decke über den Kopf zu ziehen, das ist das Gefährlichste, was wir überhaupt tun können.“ Das „Territorialprinzip von Macht“ sei von der Realität im digitalen Zeitalter nachweislich überholt. „Wer die Wirklichkeit nicht erkennt und anerkennt, der scheitert.“ Entsprechend wichtig seien supranationale Organisationen wie die „unvollständige“ UN, falsch seien Tendenzen des nationalen Rückzugs.
Die europäische Einigung habe nicht nur Frieden gesichert, sondern sei auch wichtig als ein globales Vorbild für die Gestaltung transnationaler Wirklichkeiten. Die EU, die nun vor neuen Chancen stehe, regle „auf einem beschränkten Raum das, was global auch geregelt werden müsste“, was die EU wiederum in ihrer Außenpolitik zu tun versuche. Viele würden auf Europa blicken, das mit seinem Einigungsprozess ein Beispiel für eine bessere Welt sei und immer in seinen Krisen wachse. Der Weg zu der globalen Zusammenarbeit, auf die Lamers Gedanken abzielten, sei allerdings noch „steinig und lang“ und verlange mehr „innere Stärke“ als zurzeit vorhanden sei, etwa wenn Geld in andere Weltregionen investiert werden müsse.
Ein Europa ohne innere Grenzen
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot sprach sehr schnell und hielt als einzige die vorgegebene Sprechzeit von 25 Minuten ein. Auf der Basis ihres Buches „Warum Europa eine Republik werden muss“ – ihr „persönliches Wutbuch“ – ging sie auf die Demokratiedefizite der EU in einem „nicht funktionierenden Europa“ ein und kritisierte mit Verweis auf Habermas die europäische Entkoppelung von Staat und Markt. Derzeit seien weder die EU noch die Staaten souverän, nur die Bürger. Statt in Nationen zu denken, die im Wettbewerb stünden, bräuchte man eine Republik (keine „Vereinigten Staaten von Europa“), die als solche den direkt am Gemeinwesen („res publica“ ) beteiligten Bürger einen „emotionalen Resonanzboden“ biete und in der jeder vor dem Recht gleich sei. Dazu zitierte sie Jacques Delors: „In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben.“ Statt Staaten müssten direkt die Menschen geeint werden.
Andreas Gramscis Definition einer Krise als dem „Zustand, in dem das Alte abstirbt, aber das Neue noch nicht zur Welt kommen kann“, sei für die Lage in Europa zutreffend. Es sei gut, dass nun die Krise erkannt worden sei und wieder mehr diskutiert werde. Sie erlebe dabei immer wieder, dass es zwei Diskussionen über Europa gebe: „eine eher älter, auch eher männlich, eher Machthaber, eine jünger, dynamischer, ganz anders über Europa diskutierend und im Denken schon sehr viel weiter als alles, was wir im offiziellen Europadiskurs noch so verhandeln“.
Bürgerkriegszustände innerhalb der Nationen
Eine ökonomische Karte Europas sollte verdeutlichen, dass „ob es wem gut geht oder nicht, wenig damit zusammenhängt, was der Nationalstaat ist oder nicht“. Vielmehr gebe es staatenübergreifend ein Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie oder Stadt und Land, was auch in den Wahlergebnissen zu erkennen sei. Die Globalisierungsverlierer befänden sich vorwiegend in ländlichen Regionen. Trotzdem habe man noch immer „chauvinistische Diskussionen“ über die Griechen, die Deutschen und so weiter. Im Moment sei durch eine Krise der Repräsentation eine Auflösung des Volkes als eines politischen Körpers zu beobachten, etwa wenn man an die inhaltlich konträren Pediga-Demos und Pulse-of-Europe-Demos denke. Die „Spaltung von Nationen“ sei besonders in Großbritannien und Polen sichtbar. Nach dem Philosophen Giorgio Agamben führe das in das theoretische „Paradigma eines Bürgerkrieges“ und mache eine „Neubegründung“ nötig.
Eine Art Bürgerrechtsbewegung
Guérot befürwortet als wichtigen Schritt etwa eine europäische Arbeitslosenversicherung, die laut einer Umfrage eine Mehrheit befürworte, die aber im Europarat gestoppt worden sei. Das System bilde den Willen der Mehrheit eben nicht ab. Das allen vertraute Konzept der Republik müsse daher auf ganz Europa übertragen werden. Die „Identität im Sinne von Volksstämmigkeit“ werde darin erhalten, aber es gebe eine „normative Einheit“ und die Gleichheit aller bezüglich Wahlen, Steuern und sozialer Rechte. Die Bürger müssten dies als ein Ziel vor Augen haben, das ihnen persönlich etwas bringe, und dafür in eine „emanzipatorische Bewegung“ eintreten, die durchaus analog zu verstehen sei zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Es ginge um allgemeine politische Gleichheit in einem Europa jenseits von Nationen. Die Europäische Republik, die man vielleicht in 30 Jahren haben könne, sei dann in 50 bis 60 autonome Regionen (Rheinland, Schottland, Katalonien usw.) eingeteilt und hätte auf Basis demokratischer Wahlen einen Senat, ein Repräsentantenhaus und einen direkt gewählten Präsidenten. Letzteres stünde schon in „so ziemlich jedem Parteiprogramm von heute“.
Eine Diskussion zwischen den Referenten hatte die phil.cologne bewusst nicht vorgesehen, der es darum ging, mit drei „Visionen“ den üblichen Pessimismus zu vermeiden. Man könnte einwenden, dass es für Europa nie einen Mangel an Ideen und Visionen gab. Aktuell scheint es mindestens ebenso wichtig, die EU so anzunehmen, wie sie ist, und ihre Geburtsfehler auszubügeln. Jede Vision ist auch ein negatives Urteil über den Jetzt-Zustand, von dem aber konstruktiv auszugehen ist. Wie die Zeichen der Zeit stehen, hat Karl Lamers zutreffend verdeutlicht. Damit sind auch die längerfristigen Notwendigkeiten im Prinzip klar. Dass Deutschland und Frankreich dasselbe wollen, ist nicht neu, allerdings ist diese proeuropäische Achse sowohl durch Macron gestärkt, wie auch durch das höhere Gewicht der beiden Länder nach dem Brexit-Votum. Bald wird sich zeigen, ob in Europa mit dem Rückenwind von Bürgerinitiativen auch mal wieder große Schritte getan werden können, während das Gewirr politischer Stimmen zugenommen hat.
phil.cologne – Internationales Festival der Philosophie | bis 13.6. | www.philcologne.de
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