Es ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen, wenn Nackedeis schon zur Ouvertüre über die Bühne springen. Da kann ja nur die pure Provokation folgen, wird sich manch konservativer Opernpurist dabei denken – und liegt doch völlig falsch damit. Denn der nackte Freier, der sich gerade – offensichtlich nach einem One-Night-Stand – vom Sofa erhoben hat, wird seine Schuldigkeit schnell, aber mit gründlicher Wirkung, getan haben. Das Publikum ist still, gespannt und findet sich mit einem Schlag hineingezogen in ein Seelendrama, wie es nur ganz selten in solcher Intensität auf der Bühne eines Stadttheaters zu erleben ist. Mit der aktuellen Neuinszenierung von Verdis „La Traviata“ unter der musikalischen Leitung von Motonori Kobayashi ist am Theater Dortmund wirklich große Oper zu erleben – und das Publikum weiß es zu schätzen.
Bemerkenswert erscheint indes, dass die erfahrene Theaterregisseurin Tina Lanik sich mit der Traviata erst zum zweiten Mal an eine Oper gewagt hat. Anzumerken ist der Produktion das an keinem Punkt – im Gegenteil. Lanik zeigt profiliertes, durchdachtes Regietheater, welches dem Stück nichts Künstliches überstülpt. Die Aktualisierung in unsere Zeit ist gut erkennbar, aber ändert nichts Essentielles an der Geschichte um Dumas‘ „Kameliendame“. Ihre hohe Qualität erreicht die Produktion unterdessen durch das ungemein hohe Engagement aller Beteiligten: Zuallererst ist da die Koloratursopranistin Eleonore Marguerre zu nennen, die als regelmäßiger Gast in Dortmund schon mehrfach geglänzt hat. Dieses Mal aber geht sie in ihrer Rolle geradezu vollständig auf. Es ist die helle Freude, wie sie zum einen mit agilen, makellosen Spitzentönen und Verzierungen glänzt, zum anderen die schwindenden Kräfte der Schwindsüchtigen eindrucksvoll mit der Stimme umsetzt.
Regisseurin Lanik zeigt sie in einer sich selbst erklärenden Achterbahn der Gefühle: Als Edelhure hat Violetta von ihrem Umfeld, einer dekadenten Partymeute, kein Mitgefühl zu erwarten. Als sie im rauschenden Fest zum ersten Mal schwächelt, werden noch ein paar Handyfotos geschossen, bevor der feierwütige Tross einfach weiterzieht. Hinter der Fassade wird von Violettas Leben nichts mehr übrig bleiben. Doch dann tritt der junge Schwärmer Alfredo in ihr Leben. Alfredo ist in Dortmund ein biederer Fremdkörper in einer bizarren, sexbesessenen Gesellschaft. Er wird Violettas Anker in der Not. Viel mehr billigt ihm die Regie nicht zu. Lucian Krasznec singt eine starke Partie, bekommt als Charakter allerdings nicht viel Gewicht. Weitaus wirkungsvoller setzt Lanik den durchweg überzeugenden Bass Sangmin Lee als machtbewussten und übergriffigen Vater Germont in Szene. Von solchen Männern hat Violetta allesamt nichts zu erwarten. Selbst die große Liebe bleibt eine Illusion.
„La Traviata“ | R: Tina Lanik | Do 31.3. 19.30 Uhr (Restkarten) | Opernhaus Dortmund | 0231 50 27 222
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