choices: Frau Schewe-Gerigk, Terre des Femmes hat das Kölner LG-Urteil zur Beschneidung von Jungen begrüßt. Warum?
Irmingard Schewe-Gerigk: Wir haben es begrüßt, dass das LG Köln klargestellt hat, dass die körperliche Unversehrtheit von Kindern auch nicht mit religiösen Argumenten verletzt werden darf. Es hat bei einer Güterabwägung zwischen zwei grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern deutlich gemacht: Das Recht auf ungestörte Religionsausübung und das Erziehungsrecht von Eltern haben keinen Vorrang gegenüber dem Recht des Kindes auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Im Übrigen hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet, Bräuche, die für Kinder schädlich sind, abzuschaffen. Dass dieser irreversible Eingriff nicht dem Wohl des Kindes entsprechen kann, zeigen nicht nur die Narkoserisiken, sondern auch Nachblutung, Fistelbildung und z.T. lebenslange seelische Schäden deutlich.
Sie haben sich bisher vor allem mit der weiblichen Genitalverstümmelung befasst. Was ist der Unterschied zur männlichen Beschneidung?
Bei der weiblichen Genitalverstümmelung gibt es vier verschiedene Formen. Die grausamste ist das Entfernen der Klitoris sowie der inneren und äußeren Schamlippen und das anschließende Zunähen bis auf eine ganz kleine Öffnung. Hierbei stirbt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation jedes vierte Mädchen, die anderen leiden ihr Leben lang. Diese Form ist in keiner Weise mit der Beschneidung der Jungen zu vergleichen. Aber es gibt durchaus Parallelen. In manchen Regionen werden lediglich die Klitorishaut oder die inneren Schamlippen entfernt. Das ist vergleichbar. Ich habe mir kürzlich eine Beschneidung angesehen, weil auch ich mir das harmloser vorgestellt habe. Danach kann ich nur sagen: Wer das bagatellisiert, weiß nicht, was da geschieht oder will es nicht wissen. Meine Sorge ist, dass vergleichbare Eingriffe, die bei Mädchen verboten sind, bei Jungen erlaubt werden. Ich kämpfe für gleiche Rechte für Jungen und Mädchen.
In einigen Bundesländern soll die Beschneidung von Jungen jetzt unter bestimmten Bedingungen zulässig sein (Aufklärung über Risiken, schriftliche Einwilligung der Eltern, Nachweis der religiösen Motivation, medizinische Standards). Ein Schritt in die richtige Richtung?
Ich glaube, die Bedingungen, unter denen die Beschneidung zulässig sein soll, und die schon jetzt einsetzenden Reaktionen zeigen die ganze Hilflosigkeit in der Debatte. Mir ist auch klar, dass man ein Ritual, das 4000 Jahre alt ist, nicht von einem Tag auf den anderen ändern kann. Daher habe ich statt eines mit der heißen Nadel gestrickten Gesetzes für einen Dialog in Form eines Runden Tisches der Regierung mit den Religionsgemeinschaften und Menschenrechtsorganisationen plädiert. Denkbar wäre auch ein symbolischer Akt und die Beschneidung erst dann, wenn die Jungen selbst entscheiden können.
Während im Koran die Beschneidung nicht erwähnt wird, ist in der Thora eine Beschneidung der Jungen zwingend für ihren „Bund mit Gott“. Ist das überhaupt diskutierbar – Gott und Mann versus Menschenrechte?
Natürlich ist das das größte Problem. Wenn Prominente jüdischen Glaubens sagen, ohne Beschneidung sei man kein Jude und damit sei jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich, ist die Diskussion eigentlich beendet. Ich weiß aber, dass der Anteil der in Deutschland lebenden beschnittenen Männer jüdischen Glaubens sehr gering ist. Das hat damit zu tun, dass die meisten aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Dort waren Beschneidungen verboten. Diese Menschen müsste man fragen, ob sie sich nicht dennoch als Juden fühlen.
Sie haben eine breite gesellschaftliche Debatte zum Thema und den damit verbundenen Traditionen angeregt. Wie wichtig ist dabei aus Ihrer Sicht die „Frauenfrage“?
Frauen wurden und werden in allen Religionen diskriminiert. Aber die Religionen haben sich weiterentwickelt. Ich bin froh, dass es keine Witwenverbrennungen oder Steinigungen mehr gibt, dass in China den Frauen nicht mehr die Füße verkrüppelt werden. Wir bekämpfen auch die Gewalt an Frauen, Zwangsverheiratungen oder Morde im Namen der Ehre. Auch hierbei spielen Religion und Tradition eine unrühmliche Rolle.
Könnte ein erster Schritt sein, die Pluralität der Meinungen auch innerhalb von Judentum und Islam aufzuzeigen?
Ja, das wäre ein wichtiger erster Schritt. Inzwischen gehen ja auch liberale Muslime an die Öffentlichkeit und prangern die Beschneidung an. Es sind noch sehr wenige, aber sie gilt es zu unterstützen. Natürlich ist auch der gesellschaftliche Druck hoch. Nach einer Umfrage von 2006 würde ein Drittel jüdischer Eltern auf die Beschneidung verzichten, in die Tat setzen es dann doch viel weniger um, weil der familiäre Druck immens ist. Prof. Michael Wolffsohn („Nicht die Beschneidung macht den Juden“) hat sich kürzlich wieder intensiv mit dem „umstrittenen Brauchtum“ auseinandergesetzt. Die Bibel verrate es unumwunden: Selbst Moses habe seinen ältesten Sohn nicht beschnitten, allerdings hat das dann seine nichtjüdische Frau nachgeholt.
Unabhängig von all dem: Sind „flächendeckende“ Beschneidungen etwa aus hygienischen Gründen wirklich notwendig?
Ich frage mich, welches Männerbild diejenigen haben, die flächendeckende Beschneidungen aus hygienischen Gründen fordern. Wasser ist bei uns kein Mangel, und wie „Mann“ sich auch an etwas schwieriger zugänglichen Stellen wäscht, sollten Jungen früh lernen. Mädchen können das auch. In den USA ist der Anteil beschnittener Männer sehr hoch, nachdem Beschneidung im 19. Jahrhundert gegen Masturbation eingeführt wurde. Heute gehen die Zahlen enorm zurück.
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