„Wie groß die Macht der Worte ist, wird selten recht bedacht“, sagte der Dramatiker Friedrich Hebbel in längst vergangenen Zeiten, als statt der Menschen nur die Vögel zwitscherten. Die Rede in diesem klassischen Zitat ist von Worten. Nicht von Zeichen. Zum Wohle des weiblichen Geschlechts prangt heute mit dem Sternchen-Symbol ein solches in der Mitte von Substantiven wie Leser*innen, Zuhörer*innen oder Steuerzahler*innen. Die vorerst aktuellste, von breiteren Kreisen akzeptierte Evolutionsstufe des Schrägstriches, des Binnen-Is und des Unterstriches. Das Ergebnis dieser Sprachreform ist überall im Lande zu sehen. Die Löhne der Frauen bei gleicher Arbeitsleistung wurden vollständig dem Niveau der Männer angepasst. Sämtliche auf Basis uralter Geschlechterklischees als „typisch weiblich“ konnotierten Berufe wie die Krankenpflege, die Grundschulerziehung oder die Änderungsschneiderei werden von Männern überflutet. Umgekehrt stürmen die jungen Frauen an den Universitäten und Fachhochschulen die Fakultäten für Mathematik, Maschinenbau und Materialwissenschaften. Zu guter Letzt und am allerwichtigsten: Sämtliche Männer, die vor dieser neuen Schreibweise den Frauen immer nur verächtlich bis jovial begegneten, haben nun aufrichtigen Respekt vor dem anderen Geschlecht. Überall im Land sitzen die Großkopferten vor dem Bierkrug, stecken die Daumen in ihre Gürtelschlaufen und sagen: „Holla, die Waldfee! Es gibt jetzt ein Binnensternchen. Was habe ich nun Achtung vor den Frauen!“
Dies ist natürlich alles ausgeblieben. Die Grundidee, dass Sprache die Wirklichkeit nicht bloß abbildet, sondern aktiv miterschafft, bleibt allerdings richtig. Um so erstaunlicher ist in dieser Hinsicht der vollkommen laxe Umgang mit den Worten, die derzeit tagtäglich Geist und Seele der Teenager füllen – den Auswürfen der erfolgreichen Gangster-Rapper. Während Erwachsene sich durch die geistige Nahrung, die sie verzehren, nur noch wenig verändern, sind Geist und Seele Heranwachsender massiv formbar. Was ist nun dank der derzeit dominierenden Jugendkultur zur selbstverständlichsten aller Drohungen geworden? „Ich ficke dich!“ Im Alltag natürlich eher „Isch fick disch!“ ausgesprochen. Wurde jemand „gefickt“, bedeutet das, er wurde hintergangen, besiegt, gemobbt oder einfach nur zu Boden gebracht. Das, was auch bloß das Wort für eine besonders animalische und nur der körperlichen Befriedigung dienende Variante des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs sein kann, ist jetzt jedoch das meistgebrauchte Synonym für Machtausübung. Mit jedem Takt verbinden sich in den Köpfen der 14-jährigen Sex und Gewalt zu einem untrennbaren Zwei-Komponenten-Kleber. Vers für Vers und Reim für Reim nicken sie ohrenbestöpselt zu nichts anderem als der Glorifizierung von Vergewaltigung. Denn: Wer jemanden „gefickt hat“, gilt als der Coole und nicht etwa der verachtenswerte Täter. Dazu passend wurde das Wort „Opfer“ im Rahmen dieser diabolischen deutschen Dichtung zu einem Begriff für jemanden, den man verachtet anstatt ihm oder ihr gegenüber Mitgefühl zu empfinden. Opfer zu sein beinhaltet somit auch noch die „Schuld“, schwach gewesen zu sein sowie die Verachtung dieser Schwäche. Auf Schwäche nicht mit Fürsorge zu reagieren, sondern mit Verachtung, ist ein prototypisch faschistischer Gedanke.
Seltsamerweise genießt die „Kunstform“ Gangster-Rap gerade unter Männern, die selber überhaupt nicht dem Milieu echter Machos angehören, weiterhin Welpenschutz. Lehrer, Sozialarbeiter und vor allem linke Popjournalisten erläutern stets gern die systeminterne Logik des Hiphop und seiner angeschlossenen Jugendsprache. Nichts sei hier wörtlich zu nehmen, alles nur Übertreibung im Sinne des spielerischen Wettbewerbs und Battles. Rein metaphorisch und sinnbildlich. Das macht folgende Beispielzeile der Herren Kurdo & Majoe als typische Vertreter natürlich besser: „Die Bitch muss bügeln, muss sein / wenn nicht gibts Prügel, muss sein / ein auf Gefühle, muss sein / ich will ein bisschen Vergnügen, muss sein / wie sieht's aus mit Betrügen? Muss sein / und danach schickst du sie mit dem Bus heim, muss sein, muss sein“.
Mein Vorschlag für eine wirksame Veränderung der Wirklichkeit durch Sprache wäre, unter Jugendlichen als Schimpfwort statt „Ey, du Opfer“ ein kräftiges „Ey, du Täter!“ zu etablieren. Außerdem sollte man sich seinem nervenden Klassenkameraden gegenüber nicht mit den Worten „Hör auf, sonst fick ich dich, Alter!“ wehren, sondern mit einem vollkommen irritierenden: „Hör auf, sonst lieb ich dich!“ Zumindest der konsternierte Blick des Gegenübers wäre diesen Versuch wert.
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