Es war kein Meeting, das auch hätte eine E-Mail sein können. Es war viel schlimmer.
„So, Leute, alle mal hergehört“, begann HR Head Innovation Chief Neuwell. Wie ihr wisst, hat unsere Firma mit allerhand Problemen zu kämpfen. Die Erfahrenen gehen in Rente, die Könner zur Konkurrenz, und da bleibt nur, wer weder Talent noch Ambitionen hat. Das müssen wir ändern und das werden wir ändern, denn wir drei Personalleiter waren auf einem Führungskräfte-Seminar.“
„Und Junge, waren wir blau …!“, sagte HR Chief Performance Officer Mollinø. HR Top-Tier Controlling Manager Kodschimer stieß Mollinø mit dem Ellbogen in die Seite. „… blau … äugig an die Sache rangegangen“, rettete sich dieser noch.
Neuwell fuhr fort: „Die Lösung lautet“ – er machte eine dramatische Pause, in seinen Augen blitzte die Erwartung auf Jubel, Erweckung und Anbetung – „Gamification.“ Ihm schlug eine Welle der Reaktionslosigkeit ins Gesicht. Im Raum nebenan meldete der Kopierer Papierstau. „Gamification ist … Mollinø, definieren Sie doch mal, Sie haben das mitgeschrieben.“ Und wieder an die versammelten Abteilungsleiter gewandt: „Wir haben nämlich jede Menge aus dem Seminar mitgenommen.“
„Ja, genau, vor allem aus der Minibar.“
Seminar an der Minibar
HR Top-Tier Controlling Manager Kodschimer fiel ihm ins Wort: „Gamification ist Motivation durch Spiel. Spielerische Mechanismen. Menschen arbeiten nicht gern, sie spielen lieber. Also machen wir die Arbeit zum Spiel.“
Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Die erste Maßnahme, die eingeführt wurde, war naheliegend.
„Das erste, was wir machen müssen, ist das Naheliegendste“, verkündete HR Head Innovation Chief Neuwell. „Was haben unsere Programme und Spiele-Apps gemeinsam? Es sind beides Software! Unser Buchhaltungsprogramm ist nichts anderes als Candy Crush mit schlechter Grafik. Das ändern wir!“
Der Chef der Buchhaltung setzte zögerlich zu einem Einspruch an, aber Neuwell wiederholte „Das ändern wir!“ in einem Tonfall, aus dem man die Kursivierung geradezu heraushören konnte.
Zwei Monate später waren die Lohnabrechnungen im Verzug. Früher wäre besagter Buchhaltungs-Chef ausgerastet, wenn die nicht rechtzeitig fertig gewesen wären. Heute wusste er, dass seine Leute nichts dafür konnten. Immerhin in der Hinsicht haben die Gamification-Maßnahmen schon mal Wirkung gezeigt. „Und, Müller, wie weit sind die Abrechnungen A–K?“, fragt der oberste Buchhalter und reibte sich vorsorglich die Schläfen.
Lohnzettel freischalten
„Die wären theoretisch seit zwei Tagen fertig, Chef. Aaaaber …“, sagte Müller und deutete auf seinen Monitor, „um den Krankenversicherungsanteil einzutragen, muss ich erst die entsprechende Spalte freischalten. Dafür brauche ich aber diese gestreiften Kidney-Bohnen …“
„Das sind doch jelly beans“, mischte sich Berthold vom Schreibtisch nebenan ein.
„… diese gestreiften jelly beans, die ich aber wiederum freispielen muss, aber dafür muss ich ja erst auf Level 20 …“
„Also, ich bin schon auf Level 30“, betonte Berthold nicht ohne Stolz. Und fügte nicht ohne Bedauern hinzu: „Aber für die Kirchensteuer brauche ich noch die Kekse …“
„Wir schicken Ihnen die Abrechnungen, sobald wir sie haben, Chef. Das heißt, sobald wir sie durch die Wand in diesem neuen BlockOutLook geschossen haben.“
Nicht ganz richtig
Der Chef rieb sich die mittlerweile roten Ohrläppchen.
Einen weiteren Monat, einige nichtausgezahlte Gehälter und eine Reihe von plötzlichen Krankschreibungen später ist es Zeit für ein weiteres Meeting.
„So, Leute, wir haben das mit der Gamification wohl nicht so ganz richtig verstanden“, eröffnete HR Head Innovation Chief Neuwell.
„Nicht ganz richtig implementiert“, präzisierte HR Top-Tier Controlling Manager Kodschimer nach einem kurzen Augenrollen in Richtung seines Kollegen. „Gamification spricht die Urtriebe des Menschen an. Wir haben zu modern gedacht. Es sind nicht die Handyspiele, die wir uns zum Vorbild nehmen sollen. Wir müssen zu den Klassikern zurück. In der Logistik zum Beispiel.“
Auf der hohen Stirn des Ingenieurs bildeten sich deutliche Schweißtropfen.
Einen Monat später hörte man in der Reklamationsabteilung hundertfach folgendes Telefonat: „Ja, wir bedauern sehr, dass Ihre Lieferung nicht rechtzeitig angekommen sind. Ich weiß, dass Sie den Lieferweg Ihrer Waren per App nachverfolgen können. Ganz richtig, drei Ihrer Bestellungen standen schon kurz vor dem Versand. Sie waren quasi schon im LKW. Nein, das ist kein Fehler, dass sie wieder ins Zentrallager in Gleismuthhausen/Oberfranken zurückgeschickt wurden. Das liegt daran, dass ein anderer Kunde einen Pasch gewürfelt und Ihre Bestellungen geschlagen hat. Das ist das neue M-Ä-D-N-System in unserer Logistik. … Hallo? Sind Sie noch dran?“
Zwei Monate und einen um zwei Drittel reduzierten Bestandskundenstamm später war es Zeit für ein weiteres Meeting. Der Konferenztisch war zwei Twister-Matten gewichen.
Körperspannung
„Leute, wir haben eine neue Strategie entwickelt“, verkündete HR Head Innovation Chief Neuwell. Die anwesenden Abteilungsleiter zitterten. Auch die, die nicht immer noch versuchten, den linken Fuß aufs gelbe Feld zu bekommen.
„Was unterscheidet Schach von ‚Tempo, kleine Schnecke‘? Richtig, beim Schach gibt es keine Würfel. Darum gelten die Weltbesten im Schach als gescheit; Erwachsene, die das Schneckenspiel spielen, aber als gescheitert. Wie Einstein schon sagte: ‚Gott würfelt nicht.‘“
„Werden wir also zu Göttern!“ HR Chief Performance Officer Mollinø machte eine energische Handbewegung.
„Was?“ HR Top-Tier Controlling Manager Kodschimer blickte verwirrt.
„Was?“ HR Chief Performance Officer Mollinø grinste.
HR Head Innovation Chief Neuwell fing sich schnell. „Wir verbannen also sämtliche Zufallselemente aus unseren Prozessen.“
„Was war das mit den Göttern?“
Kein Antwort, keine weiteren Fragen. Stattdessen Anweisungen.
Dabeisein ist alles
Das erste Zufallselement, das ausgeschlossen wurde, betraf den Arbeitsweg der Angestellten. Pendeln mit der Bahn wurde verboten. Die Anfahrt mit dem Auto allerdings auch, da kann ja wer weiß was passieren. Also mussten die Mitarbeiter ins Büro umziehen. So hat dann auch keiner gemerkt, dass die Gleitzeit abgeschafft wurde. Das Produkt des Unternehmens wurde umbenannt von „Unverhofft-Ei“ zu „Gewissheits-Ei“. Ein Guckloch in Verpackung und Schokoladenhülle offenbarte Einblicke auf Flusspferde mit Dutt und Vollbart bei der Zubereitung eines Flat White an einem silbernen Laptop mit Apfellogo sitzen. Die „Hippen Hippos“ verkauften sich selbst in den Läden lausig, in denen die Lieferung ankam.
Zwei Monate später mussten die Mitarbeiter wieder aus den Büros ausziehen. Die Firma war bankrott.
„Kopf hoch, liebe Belegschaft“, hieß es in einer motivierenden Rede von ganz oben, „mal verliert man, mal gewinnt man. Nehmen Sie es leicht, das Leben ist ein Sp…“
Wir werden nie erfahren, ob das Leben ein Spiel oder doch ein Spiegelei ist, denn die Belegschaft fing an, noch bevor der CEO ausreden konnte, Galgenmännchen mit ihm zu spielen.
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Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 2: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
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Teil 2: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
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Teil 3: Lokale Initiativen – Spieletreffs in Wuppertal
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