Fast täglich höre ich die beiden. Durch die Wand. Wie durch Pappe. Ruhrpott-Altbau halt, da machste nix. Jedenfalls höre ich dieses Pärchen. Nun schon seit einigen Jahren, ziemlich laut und ungehemmt. Sie meistens dauerhaft und hochfrequent, er seltener, dafür ziemlich brummig und unter der Gürtellinie. Nicht, was Ihr jetzt denkt. Nein, die streiten. Immer. Würde ich in Berlin wohnen, hätte ich denen schon längst so ein typisches ironisches Besserwisserschild an die Tür gebämmst: „Liebe Nachbarn, schon mal über Trennung nachgedacht?“ Aber das hier ist nicht Mitte, nein, hier ist man tolerant. Hauptsache handfest und aus vollem Hals gebrüllt, wie man‘s vom Fußball kennt.
Und überhaupt, Zärtlichkeit. Das ist doch was für Looser. Für so Leute, die nicht gecheckt haben, wie der Hase läuft. Zärtlichkeit ist maximal das, was man für sein Auto empfindet, für die neue fette Uhr oder die heißen weißen Sneaker, vielleicht noch für seinen Buddy aus der Posse – aber nie für „das andere Geschlecht“. Gefühlt 90 Prozent der Hiphop-Videos und Präpubertierendencliquen jeglichen Alters müssen doch recht haben. Sex ist Kommerz, Liebe durch die Medien definiert, Intimität ein reines Tauschgeschäft, Aussehen ist alles. Was hat Zärtlichkeit schon groß zu suchen in unserer Welt, wo es um Kampf und Karriere geht. Spätestens wenn die Roboter die Macht übernehmen, hat sich Zärtlichkeit sowieso erledigt. Bis dahin ist diese Weichspülerei was für Esoteriker, für so Leute die dem kapitalistischen Denken eine Absage erteilen wollen und stattdessen nach eigenen, sanfteren Formen des Umgangs suchen. Aber diese Windeier tun ja gottseidank nichts, die sind ja alle mit Kuschelparties beschäftigt. Zum Beispiel in Wuppertal, da gibts vierstündige Kuschelworkshops, durchaus für Anfänger geeignet, und betreut von einer ausgebildeten Krankenschwester. Letzteres passt ja auch irgendwie.
Seitdem die Jungs alle in ihren Vollbärten verschwinden, sinkt glücklicherweise wenigstens die Kusslust, allein schon aus Angst vorm Klebenbleiben im teuren Pflegeöl. Selbst die Bartträger wollen offenkundig die zärtelnde Klammerei von außen aus ihrem Leben verbannen, damit nichts sie in ihrem Sich-Selbst-Umkreisen stört. Vor allem der Oberlippenbart ist Trendführer. Er ist Inbegriff der ironischen Geste, und ironische Distanz ist das glatte Gegenteil von Zärtlichkeit. Sie ist das Trockendock für das marode Selbstbewusstsein, welches sich hinter Abgeklärtheit versteckt. Wer alles gleichmäßig weggrinst, fühlt nichts und niemanden.
Zärtlichkeit passt da nicht rein, so oder so. Denn Zärtlichkeit ist eine Einstellungssache, und damit per se gefährlich. Bist Du zärtlich zu deinem oder deiner Nächsten, bist Du auch zärtlich zu Dir selbst. Vorsicht! Als Nächstes geht das noch los, dass Du zärtliche Liebe für alle Lebewesen fühlst. Die Metamorphose zum Gutmensch beginnt. Du wirst schrecklich ernsthaft, legst die Ironie ab und fängst an, Dich für die Arbeitsbedingungen zu interessieren, unter denen Dein Turnschuh entstand. Womöglich endet es damit, dass Du es noch nicht einmal mehr übers Herz bringst, Käfer zu zertreten. Ja, wo kämen wir denn dahin, wenn alle zärtlich wären. Empfindsamkeit als Regelfall – die postironische und postkapitalistische Hölle! Womöglich wären wir dann alle glücklich. Außer meine Nachbarn natürlich. Denen wäre Tag und Nacht langweilig. Und das kann ja nun wirklich niemand wollen.
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