Poor Things
Irland, Großbritannien, USA 2023, Laufzeit: 141 Min., FSK 16
Regie: Yórgos Lánthimos
Darsteller: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Jerrod Carmichael
>> www.poorthingsfilm.de/
Feministische Parabel im Gewand der Frankenstein-Geschichte
Fantastischer Feminismus
„Poor Things“ von Yórgos Lánthimos
Bella benimmt sich ganz schön kindisch! Dabei scheint sie eine junge Frau zu sein. Aber wer weiß das schon genau, bei einem solchen „Vater“? Denn der ist der berüchtigte britische Arzt Dr. Godwin Baxter, kurz God genannt. Ein exzentrischer Wissenschaftler, der Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Haus, das der Fantasie eines M.C. Escher entsprungen sein könnte, zahlreiche skurrile Hybrid-Tiere – zusammengesetzt aus zwei unterschiedlichen Arten – beherbergt. In diese Geheimnisse weiht der Wissenschaftler den Studenten Max McCandles ein, der ihm als Assistent dienen soll, vor allem bei der Beobachtung von Bella. Denn auch Bella ist ein Geschöpf von Baxter: die mehr oder weniger erfolgreiche Wiederbelebung einer Selbstmörderin. Als sich Max in die schöne Bella (die nicht umsonst so heißt) trotz ihres kindlichen Geisteszustands verliebt, passt das Baxter gut in seine Pläne. Denn so kann Max, der Bella heiraten soll, seine Ehefrau in spe umso besser beobachten. Einzige Voraussetzung: Das junge Paar wohnt weiterhin bei dem Wissenschaftler. Doch Baxter hat nicht nur so manche seiner Experimente nicht ganz im Griff, sondern auch die Ereignisse rund um Bella. Die entdeckt gerade ihre Sexualität – und Baxters neugieriger Anwalt Duncan Wedderburn brennt kurzerhand mit ihr durch. Von nun an bleiben Baxter und seinem brüskierten Assistenten nur die Postkarten, die Bella von ihrer Reise durch den Mittelmeerraum schickt.
Auf Grundlage des gleichnamigen Romans vom schottischen Schriftsteller Alasdair Gray aus dem Jahr 1992 und der Drehbuchfassung von Tony McNamara entfaltet der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos eine wilde, moderne Fassung des Schauerromans von Mary Shelley. Lanthimos ist bekannt für ungewöhnliche Szenarien. Internationale Bekanntheit erlangte er 2009 mit seinem Spielfilm „Dogtooth“, der in Cannes mit dem Preis Un certain regard ausgezeichnet und für den Oscar nominiert wurde. Schon hier zeigt sich der Wille zum parabelhaften Erzählen durch bis ins Absurde gesteigerte Szenarien der Künstlichkeit. Zugleich war dieser Film wie auch die folgenden durchdrungen von brutalen Szenen, die ihren Ursprung in Machtgefällen haben. Es folgen mit „Alpis“ (2011) und den ersten internationalen, englischsprachigen Produktionen „The Lobster“ (2015) und „The Killing of a Sacred Deer“ (2017) Filme mit ähnlichen Kommentaren zu gesellschaftlichen Zwängen, die absurde Satire und düstere Allegorie zusammenführen. Letzterer, mit Colin Farrell und Nicole Kidman prominent besetzt, orientiert sich außerdem an griechischen Tragödien. „The Favourite“ aus dem Jahr 2019 – wie „Poor Things“ mit Emma Stone in der Hauptrolle – spielt im 18. Jahrhundert am englischen Königshof und schildert die dortigen Machtverhältnisse und Intrigen, die eine verarmte Adelige für ihren Aufstieg zu nutzen versucht. Schon hier sind die bösartigen Auswüchse in Lanthimos Filmen abgeschwächt. In „Poor Things“ weichen sie vollends einem absurden Humor und grotesken Details.
Ästhetisch geht Giorgos Lanthimos mit „Poor Things“ ganz neue Wege. War bereits der Vorgänger „The Favourite“ anders als die früheren Filme visuell opulent inszeniert, ist „Poor Things“ eine wüste Mischung aus M.C. Eschers Verwirr-Ästhetik, Disney-Farbkitsch und altmodischem Gruselfilm. An die extremen Weitwinkel vor allem zu Beginn des Films muss man sich etwas gewöhnen (und ihr Zweck bleibt im Dunkeln), doch mit dem Erwachen und der Selbstermächtigung der Heldin werden die Bilder klarer, bunter und weitläufiger. Denn Bella wächst auf ihrer Reise mit dem etwas hinterlistigen Anwalt Duncan Wedderburn durch Städte und Länder wie in einem feministischen Bildungsroman mit jeder neuen Erfahrung auch mental und moralisch: Sie lernt die Armut kennen, sie lernt verschiedene Ethnien kennen, sie lernt die Sexarbeit kennen, sie lernt sozialistische und feministische Ideen kennen und greift all das interessiert und vorurteilsfrei auf, mehr noch: schreibt es auf ihre Agenda. Derart gerüstet, kann sie in ihrer Heimat die ihr bevorstehenden Aufgaben vielleicht meistern. Giorgos Lanthimos neuester Film ist eine lustvolle, erzählerisch und visuell überbordende Fantasie, der man sich dank des gut aufgelegten Ensembles um William Dafoe als Dr. Baxter, Mark Ruffalo als Anwalt und natürlich Emma Stone als Bella nur allzu gerne hingibt.
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