In meinem Kopf ein Universum
Polen 2013, Laufzeit: 111 Min., FSK 6
Regie: Maciej Pieprzyca
Darsteller: Dawid Ogrodnik, Anna Karczmarczyk, Katharzyna Zawadzka
Unkonventionelles Behindertendrama
Dämmerzustand
„In meinem Kopf ein Universum“ von Oliver Schwehm
„Jeder weiß: Man spielt nie einen Vollbehinderten! Dustin Hoffman, ‚Rain Man‘: Hat ‘nen Behinderten gespielt, nur der konnte auch was. Autistisch ja, aber nicht behindert. Oder Tom Hanks, ‚Forrest Gump‘: Langsam, ja, aber er hat Nixon amüsiert und ‘nen Ping-Pong-Wettbewerb gewonnen. Das ist nicht behindert. Frag Sean Penn, 2001, ‚Ich bin Sam‘ – der Vollbehinderte ist leer ausgegangen!“ Soweit ein (gekürztes) Zitat aus der Hollywoodsatire „Tropic Thunder“. Robert Downey junior erklärt darin in der Rolle eines überambitionierten Method Actors die Regeln Hollywoods. Seine Ausführungen sind zynisch, aber sie sind nicht grundlegend verkehrt. So heimste erst kürzlich Eddie Redmayne als Stephen Hawking, sprich als hochbegabter ALS-Patient den Oscar ein („Die Entdeckung der Unendlichkeit“). Schlussendlich setzen derlei Dramen bloß jene Political correctness um, wonach behinderte Menschen nicht als behindert, sondern als alternativ begabt zu betiteln sind.
Dem Leid ein Schnippchen schlagen
Derzeit starten verstärkt Spielfilme über körperlich behinderte oder tragisch erkrankte Menschen. Vor allem Hollywood setzt alles daran, dem Leid, ja selbst dem sicheren Tod eines Protagonisten vorm Abspann noch ein Schnippchen zu schlagen. Da bildet das Alzheimer-Drama „Still Alice“ nur eine Ausnahme der Regel. Eine Regel, die in diesem Monat von „Das Glück an meiner Seite“ bereits wieder bestätigt wird. Dabei ist ein gewisses Glück im Unglück des anderen gar nicht anrüchig, schweißt doch das traurige Schicksal des einen seine Begleiter oftmals zusammen, versöhnt und erdet alle Beteiligten. Für Hollywood allerdings ist eine solche Fügung zwanghafter Standard. Wenn der Protagonist stirbt, wird vor dem finalen Black noch schnell ein Baby geboren. Oder das Sterben des einen verpasst dem anderen den Kick zurück ins Leben.
Während sich Hollywood zurzeit verstärkt mit ALS- und Alzheimer-Dramen auseinandersetzt und damit vor allem den tragisch bewussten Kontrollverlust thematisiert, setzt Frankreich auf Feel-trotzdem-Good-Behindertendramen wie „Ziemlich beste Freunde“. Deutschland hat Til Schweiger („Honig im Kopf“). Und Polen? Ja, Sie lesen richtig: Polen. Unser Nachbarland beschert uns nämlich in diesem Monat das auf wahren Begebenheiten beruhende Drama „In meinem Kopf ein Universum“. Erzählt wird die Geschichte des jungen Mateus (Dawid Ogrodnik), der an einer zerebralen Bewegungsstörung leidet und bereits in früher Kindheit von den Ärzten als geistig behindert eingestuft wird. Die Diagnose allerdings ist ein Irrtum, Mateus ist bei klarem Verstand. Nur kann er dies aufgrund seiner Behinderung nicht vermitteln. Über zwei Jahrzehnte lang lebt er in diesem tragischen Dämmerzustand, bis ein Zufall das Schicksal wendet.
Einfach auch mal schelmisch
Dieser Film ist zuerst einmal deshalb herausragend, weil Hauptdarsteller Dawid Ogrodnik („Ida“) schlichtweg brilliert und mit seiner Leistung Oscar-Gewinner Eddie Redmayne mit einem Wimperzucken in den Schatten stellt. Vor allem aber nähert sich das Drama völlig unvoreingenommen und fernab üblicher Konventionen seiner Geschichte. Es verzichtet auf standardisierte (Nicht-)Betroffenheit und gibt sich stattdessen einfach auch mal schelmisch. Dies gelingt nicht zuletzt über den Einsatz der Musik (Bartosz Chajdecki), bei der vor allem ein schon surreal munter gepfiffenes Thema ins Ohr geht. Zum anderen sorgt der Off-Kommentar des Protagonisten, der sich gegenüber seinen Mitmenschen zu keinem Zeitpunkt verbal mitteilen kann, für vielerlei Einblicke, die auch vor Selbstironie und Zynismus nicht Halt machen. Der Film behält durchweg den Ernst und den Respekt vor seinem Thema. Nur wirkt kaum etwas konstruiert oder herkömmlich. Regisseur Maciej Pieprzyca inszeniert schlicht, frei und klein.
Auffallend ist, dass dieses Behindertendrama, anders als die meisten zitierten Filme, in einem geerdeten Lebensumfeld angesiedelt ist. Fast alle Protagonisten ähnlicher aktueller Filme – „Ziemlich beste Freunde“ treibt es auf die Spitze – entstammen einem gehoben bürgerlichen, finanziell abgesicherten Umfeld, was ihnen die monetäre Sorge und die Verlegung in eine Pflegeanstalt erspart. Das ist dramaturgisch nachvollziehbar, da sich die Geschichte damit ungetrübt auf das Leid des Opfers fokussieren kann. Doch notwendig ist das nicht, wie dieser Film beweist. Mateus entstammt einer Arbeiterfamilie, die Kasse ist klein, doch das Herz daheim ist groß. Und wenn es mal nicht weiter geht, muss Mateus in ein Heim, und die Geschichte geht trotzdem weiter.
„In meinem Kopf“ ist erfrischend anders, weil er innerhalb jener Genrewelle neue Akzente setzt. Auch wenn er ganz im Sinne von „Tropic Thunder“ von keinem „Vollbehinderten“ erzählt – Mateus ist es nicht, nur denken alle, er wäre es. Auch dieses Drama schlägt dem Leid am Ende noch ein Schnippchen. Aber es bewegt uns dabei so anders und ist deshalb in diesem Monat unsere besondere Empfehlung.
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(Hartmut Ernst)
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