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Kathrin Ohla
Foto: privat

„Erschreckend viele Schmeckstörungen“

30. Januar 2020

Neurowissenschaftlerin Kathrin Ohla über den Geschmackssinn

choices: Frau Ohla, wie wird man eigentlich Geschmacksforscherin?

Kathrin Ohla: Von meiner Ausbildung her bin ich Psychologin und Neurowissenschaftlerin. Da interessiert man sich dafür, wie das Gehirn und Denken funktionieren, wie der Mensch handelt. Da ist man nicht weit entfernt von den fünf Sinnen. Ich habe angefangen, das Sehen zu untersuchen, bin dann aber ziemlich schnell auf den Geschmack gekommen – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn wenn man dieses Feld mit den anderen Sinnen vergleicht, merkt man, dass wir quasi nichts darüber wissen, wie das Schmecken eigentlich funktioniert und das fand ich unheimlich spannend. Ich dachte, hier kann man noch unheimlich spannende Fragen bearbeiten, die bei den anderen Sinnen längst beantwortet wurden. Deswegen bin ich in dieses Thema eingetaucht und bisher nicht wieder herausgekommen.

Warum gibt es diesen Forschungsrückstand?

Genau kann man das nicht sagen, aber ich würde zwei gewichtige Gründe ausmachen. Auf einer pragmatischen Ebene ist es zum einen deutlich schwieriger, den Geschmackssinn zu untersuchen, als das Hören oder das Sehen. Dabei kann man mit Computern arbeiten, mit Sehtafeln, Kopfhörern und anderer akustischer Ausstattung, die relativ gut verfügbar ist und die sich viele Forscher leisten können. Geld ist in der Forschung eben immer ein großes Thema. In der Geschmacksforschung ist es leider nicht so, dass wir ein paar Schokoriegel an Probanden verteilen und dann schauen, was im Gehirn passiert. Unsere Studien sind deutlich aufwendiger, als einen Kopfhörer aufzusetzen oder die Leute vor einen Bildschirm zu setzen. Wir arbeiten mit Flüssigkeiten, die ein chemisches Labor erfordern, um sie herzustellen, und man muss über die Dynamik von Flüssigkeiten Bescheid wissen, um sie in einem neurowissenschaftlichen Kontext gut kontrollieren zu können. Zum anderen wurde Forschung auch immer schon an einem akuten Bedarf ausgerichtet, der beim Sehen und Hören natürlich viel offensichtlicher ist: Es gibt viele Seh- und Hörstörungen, im schlimmsten Fall sogar Blindheit und Taubheit. Das hat die Forschung ganz stark motiviert und getrieben, diese besser zu verstehen, um Therapien entwickeln zu können, wie zum Beispiel das Cochlea-Implantat. Schmeckstörungen werden in der Diagnostik dagegen sehr stiefmütterlich behandelt, das heißt, auf diese wird oft gar nicht erst getestet oder abgefragt, sodass der Eindruck entstanden ist, dass diese sehr selten wären. Das ist aber nicht das, was wir im Labor sehen: Wenn wir dort gesunde junge Leute testen, ist es erschreckend, wie viele eine Schmeckstörung haben und davon nichts wussten. Das heißt, das Problem ist die fehlende Motivation, wenn man glaubt, es gibt gar nicht so viele Patienten, die unter einer Schmeckstörung leiden, dann muss man das Thema natürlich auch nicht so intensiv untersuchen. Und am Ende ist es wieder eine Frage des Budgets. Vor allem ist es auch so, dass Schmeckstörungen häufig nicht abrupt auftreten, sondern eher schleichend. Zum Vergleich: Wenn wir jeden Tag Zeitung lesen und irgendwann merken, die Buchstaben erscheinen unscharf, dann werden wir es nicht auf die Druckerei schieben, sondern zum Augenarzt gehen. Wenn ich aber essen gehe und es schmeckt immer weniger, werde ich es wahrscheinlich eher auf den Koch schieben, anstatt zu denken, es stimmt etwas mit meinem Geschmackssinn nicht. Es ist schwierig, im Alltag einen Vergleich zu finden.

Worauf zielt Ihre Forschung ab, was interessiert Sie am meisten?

Das kann man in zwei Bereiche fassen. Zum einen ist es mir ein persönliches Anliegen, Methoden zu entwickeln, die Schmeckfähigkeit zu untersuchen, um die sogenannte Prävalenz, also die Auftretenswahrscheinlichkeit von Schmeckstörungen besser untersuchen zu können. Das ist mir sehr wichtig. Auf der anderen Seite interessiert mich als Neurowissenschaftlerin natürlich, was beim Schmecken im Gehirn passiert – und auch, was passiert, wenn wir gleichzeitig riechen und sehen. Was sind die Mechanismen im Gehirn, die dazu führen, dass wir etwas appetitlich oder eben nicht so lecker finden, und es dementsprechend gerne essen oder verschmähen.

Haben Sie in diesen Fragen schon Ergebnisse erzielen können?

Tatsächlich haben wir neue Testverfahren entwickeln können, um die Schmeckfähigkeit schnell und unkompliziert zu testen, die auch schon von internationalen Kollegen angewendet werden. Bezogen auf den anderen Punkt, haben wir auch schon erste Mechanismen aufdecken können, wie das Gehirn zwischen verschiedenen Geschmäckern unterscheidet und welche Bedeutung diese Unterscheidung für unser Verhalten hat, für die Entscheidungen, die wir treffen – Mechanismen, die für die anderen Sinne bereits umfassend untersucht worden sind. Im Bereich des Schmeckens ist es hingegen noch richtiges Neuland.

Welche populären Irrtümer gibt es?

Ein ganz häufiger Irrtum ist, dass „Scharf“ ein Geschmack ist. Das ist nicht korrekt, es ist vielmehr ein Schmerzeindruck, kein Geschmack. Was ebenfalls sehr häufig passiert, ist dass Riechen und Schmecken miteinander verwechselt werden, das ist allein schon sprachlich bedingt. Wenn wir einen Erdbeerjoghurt essen und gefragt werden „Wie schmeckt der?“, müssten wir streng genommen sagen „süß“ – wir sagen aber „nach Frucht“. Das, was die Frucht ausmacht, ist eigentlich ein Geruchseindruck, ein Aroma, aber weil Riechen und Schmecken eng verbunden sind, ist diese Verwechslung schon von der Sprache her ein wenig vorgegeben: Wenn wir über das Schmecken sprechen, ist eigentlich auch immer das Riechen gemeint – und oft spielen noch mehr Sinne eine Rolle. Wenn ich zum Beispiel sage, Kartoffelchips schmecken mir gut, dann spielen da viele Dinge eine Rolle: Der salzige Geschmack, das würzige Aroma, aber vielleicht auch die knusprige Textur, die Frische signalisiert. All diese Dinge spielen bei einer Aussage wie „Das schmeckt mir gut“ eine Rolle, deswegen ist es ein multisensorischer Eindruck.

Wie funktioniert das Zusammenspiel von Geschmacks- und Geruchssinn?

Bekanntlich nutzt jeder unserer Sinne einen ganz spezifischen Teil im Gehirn, wo seine Informationen verarbeitet werden, die auch deutlich voneinander getrennt sind. Da fragt man sich schon, wie es kommt, dass wir verschiedene Sinneseindrücke so untrennbar erleben. Wenn ich etwa in einen Apfel beiße, registriere ich nicht das Aroma oder die Säure, sondern beschreibe den Geschmack als „Apfel“. Ich kann diese Eindrücke gar nicht trennen. Nun hat man tatsächlich im Geschmacksareal des Gehirns Nervenzellen gefunden, die auch auf Gerüche reagieren – die könnten sehr schön erklären, wie diese sehr unterschiedlichen Informationen im Gehirn zusammenkommen, wie sich diese Areale austauschen. Im Alltag kommen diese Reize sehr gut zusammen. Wir glauben immer, wir riechen beim Einatmen über die Nase, aber wir riechen auch durch den Mund: Wenn man von einem Apfel abbeißt und kaut, werden im Mund nicht nur die Säure frei, sondern auch gasförmige Aromamoleküle und wenn man schluckt, gibt es quasi einen Druckausgleich, bei dem Luft aus dem Mundbereich in die Nase gedrückt wird. Dort gibt es eine Passage, mit der wir beim Kauen und Schlucken riechen können. Dass es diese Verbindung gibt, weiß jeder, der schon mal beim Trinken lachen musste. Dann merkt man, wie schnell die Flüssigkeit in der Nase landet.

Lassen sich Unterschiede im Geschmacksempfinden feststellen, nach Region, Kulturkreis oder Ernährungsgewohnheiten?

Tatsächlich kommen wir mit einer angeborenen Vorliebe für Süßes und Umami zur Welt, während starke Säuren und Bitteres abgelehnt werden. Das kann man schon an Neugeborenen beobachten. Aber grundsätzlich findet man das schon, gerade, wenn man Vorlieben betrachtet. In anderen Kulturen wird eben auch anders gekocht. Vorlieben lernt man im direkten Umfeld, denn was die Mutter kocht, ist natürlich nicht gefährlich. Darum lernen wir auch bestimmte Vorlieben anzupassen. Die können sich auch im Erwachsenenalter noch problemlos ändern. Viele werden es kennen: Man hat zum Beispiel Oliven immer verschmäht und kommt dann in eine Situation, auf einer Party etwa, in der man Oliven angeboten bekommt und man nicht nein sagen möchte. Manche stellen dann fest, dass die ja gar nicht so schlimm schmecken, wie sie dachten. Man kann seine Vorlieben also sein Leben lang anpassen und die sind natürlich sehr durchs soziale Umfeld beeinflusst. Wenn etwa bestimmte Lebensmittel in der Region, wo ich lebe, gar nicht verfügbar sind, werde ich auch nicht auf die Idee kommen, zum Beispiel Froschfleisch zu probieren. Wenn ich nach Frankreich ziehe, kann das aber durchaus passieren. Von daher gibt es also kulturelle und lokale Unterschiede, die sich aber ändern lassen, allein schon durch einen Umzug, oder mit einer offenen Lebenseinstellung, da ist nichts in Stein gemeißelt.

Sie erwähnten bereits „Umami“. Dass es neben süß, salzig, sauer und bitter auch diese fünfte Geschmacksqualität gibt, ist im Westen erst seit kurzem bekannt.

Ich finde es sehr erstaunlich, dass Umami immer als „der neue Geschmack“ beschrieben wird. In der Geschmacksforschung ist das Thema gar nicht so neu, nur eben lokal beschränkt. Die meiste Forschung dazu kommt aus dem asiatischen Raum, wo das Wort ja auch herkommt. Wenn man sich etwa die japanische Küche ansieht. Die ist nicht so zuckerdominiert wie bei uns, sondern tatsächlich sehr herzhaft, mit Komponenten wie Sojasauce, Algen, Fisch und Fleisch – alles Lebensmittel, die den Umami-Geschmack haben, denn der zeigt Proteine an. Wir finden ihn aber auch in vielen Gemüsesorten, etwa Tomaten oder Sellerie. Es ist also sogar ein sehr wichtiger Geschmack, auch in unseren Breiten, denn ohne umami wäre unser Essen ganz schön langweilig – jedes Eintopf- und jedes Fleischgericht, jede Pizza hat einen deutlichen Umamigeschmack. Wir haben nur erst seit kurzem mit „umami“ ein Wort dafür. Dafür gibt es in unserem eigenen Wortschatz keine gute Entsprechung, außer vielleicht „herzhaft“.

Kann man seinen Geschmackssinn trainieren, wie etwa der Parfümeur seine Nase?

Meinem Wissen nach gibt es kaum Untersuchungen dazu, wie man den Geschmackssinn trainieren kann. Anders beim Riechen: Das haben wir selbst schon untersucht und konnten dabei auch andere Kollegen bestätigen: Der Parfümeur wird nicht mit der guten Nase geboren, der trainiert das. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dies beim Schmecken nicht ebenfalls geht. Was wir regelmäßig feststellen ist, dass viele Leute ihren eigenen Geschmackssinn gar nicht gut einschätzen können. Wenn wir dann aber tatsächlich im Labor mit ihnen arbeiten, sie die Augen schließen und sich auf die Zunge konzentrieren lassen, dann sind die meisten sehr gut in der Unterscheidung von verschiedenen Geschmacksreizen und auch im Erkennen verschiedener Konzentrationen. Daher würde ich sagen, es ist wie bei allen Sinneseindrücken: Wenn ich mich auf einen konzentriere und versuche alle anderen, störenden Reize auszublenden, dann kann man seine Wahrnehmung auch schärfen.

Immer wieder ein Thema sind die hohen Mengen von Salz und Zucker in der modernen Ernährung. Welche Auswirkungen haben diese auf den (kollektiven) Geschmackssinn?

Was man klar sagen kann ist, dass die Vorlieben für Salz und Zucker tatsächlich ausgeprägter werden, je mehr man davon konsumiert. Wenn wir Neugeborenen Salzlösung auf die Lippen träufeln, ist ihnen das relativ egal, darauf reagieren sie wie auf Wasser. Sobald aber ihre Nahrung ein bisschen Salz aufweist, finden sie das sehr appetitlich. Das geht auch im Erwachsenenalter weiter: Wenn wir immer nachsalzen, wünschen wir uns auch immer mehr Salz in unserer Ernährung. Sehr ähnlich ist es beim Zucker und wenn wir erst einmal eine gewisse Gewöhnung erworben haben, fällt es uns sehr schwer, von dieser Dosis wieder herunterzukommen. Aber ebenso, wie die Vorliebe für hohe Konzentrationen erworben ist, kann man sie sich auch wieder abtrainieren. Nicht etwa dadurch, dass man die Mengen halbiert, dann hat man das Gefühl, es schmeckt nach nichts. Aber wenn man die Zuckermenge in einem Kuchenrezept mal um zehn Prozent reduziert, wird man feststellen, dass man den Unterschied gar nicht merkt. Beim Kochen kann man es mit dem Salz genau so machen – wenn man Schritt für Schritt vorgeht, kann man sich wieder an die empfohlenen Dosen gewöhnen und diese auch schmackhaft finden. Das eigentliche Problem sind natürlich industriell gefertigte Produkte, bei denen man sehr wenig Einfluss darauf hat, wie hoch der Zucker- oder Salzgehalt tatsächlich ist. Da liegt die größere Schwierigkeit, denn immer weniger Menschen kochen oder backen heute noch selbst, sondern essen Convenience Food, essen unterwegs oder im Restaurant. Und damit wird es eben auch ein gesellschaftliches Problem. Da könnte man bei der Lebensmittelindustrie und auch bei Restaurants und Kantinen durchaus ansetzen. Es gibt ja Grenzwerte für alles Mögliche, und wenn man bei den Inhaltsstoffen den Prozentgehalt von Salz und Zucker deutlich lesbar herausstellen würde, würde das mit Sicherheit den einen oder anderen Kunden erschrecken.

Lärm- und Geruchsbelästigung sind gerade in Großstädten oft ein Problem. Gibt es auch so etwas wie Geschmacksbelästigung?

Naja, bei Lärm- und Geruchsbelästigung ist es ja schwer, sich dem zu entziehen. Im Gegensatz dazu haben wir über den Geschmackssinn deutlich mehr Kontrolle – wenn etwas zu intensiv schmeckt, nehmen wir eben keinen zweiten Bissen. Aber natürlich gibt es Dinge, die daran grenzen. Sie kennen Jelly Beans? Offensichtlich gibt es unter denen die Geschmacksrichtung „toter Fisch“. Eine Kollegin hat ein Video von sich gepostet, wie sie eine davon probiert – muss wirklich furchtbar sein.


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Interview: Christopher Dröge

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