choices: Herr Skudlarek, auf Ihrer Website beschreiben Sie sich als Freiheitskämpfer. Welche Rolle spielt die Freiheit in Ihrem Schaffen?
Jan Skudlarek: Erstmal möchte ich klarstellen, dass die Selbstbezeichnung „Freiheitskämpfer“ auf meiner Homepage natürlich mit einem Augenzwinkern gemeint ist. Es wäre vermessen, mich als jemanden, der ohne Gefahr für Leib und Leben Bücher schreibt, als Freiheitskämpfer zu inszenieren. Gleichzeitig scheinen die anderen beiden Begriffe, die dort mit genannt werden – Philosoph und Autor – als Berufsbezeichnung erstmal viele abzuschrecken, obwohl man sich natürlich auch jenseits von Aristoteles und Kant mit Philosophie beschäftigen kann. Ich habe daher immer versucht, die Aufzählung durch etwas Drittes aufzulockern. Und „Freiheitskämpfer“ scheint gerade diejenigen ein wenig zu provozieren, die sich gerne über meine Themen empören.
Was sind Ihre Themen?
Ich schreibe allgemein über „Wir-Themen“, das ist auch meine akademische Herkunft. In der Philosophie des Wirs geht es um die Frage, wie aus ganz vielen kleinen – und manchmal auch nicht so kleinen – Einzelmenschen ein „Wir“ werden kann, wie dieses „Wir“ dann aussieht und wie sich die Wechselwirkung zwischen dem „Wir“ und dem „Ich“ gestaltet. Dabei geht es auch um Begriffe wie „Gemeinwohl“ und „Solidarität“, die gerade in unseren Zeiten sehr umkämpft sind.
„Ein Weltbild, das impliziert, dass alle Regeln Übergriffe sind, geht an der Wirklichkeit vorbei“
Ein Freiheitsverständnis zwischen „Wir“ und „Ich“ scheint nicht leicht bestimmbar zu sein.
Ja, gerade in den letzten Jahren sehen wir, dass unser Freiheitsbegriff immer individualistischer ausfällt. Gerade während der Pandemie wurde von selbstbezeichneten Liberalen die Idee propagiert, dass Freiheit vor allem Ich-Freiheit bedeutet. Gleichwohl zeigen uns Krisen wie der Klimawandel, dass wir mit einem solchen Freiheitsverständnis nicht weiterkommen. Ein Weltbild, das impliziert, dass alle Regeln Übergriffe sind, geht an der sozialen Wirklichkeit vorbei, sich auf ein gemeinsames Regelset einigen zu müssen. Wir sehen diese Philosophie des Ichs andauernd scheitern und trotzdem ist sie grenzenlos populär, weil sie uns unserer Verantwortung enthebt. Individualfreiheit ist und bleibt natürlich wichtig; wir alle sind Individuen mit Rechten und Pflichten. Trotzdem glaube ich, dass gerade diese Pflichten häufig unterbelichtet bleiben.
Warum ist es schwer, Menschen für Gemeinschaft zu begeistern?
Ich glaube, dafür gibt es mehrere Gründe. Erstmal erfahren wir die Welt immer schon aus der Ich-Perspektive und der oder die Andere muss erst dazu erlebt werden. Es ist also normal und verständlich, primär aus dem Ich heraus zu denken, zu handeln und zu fühlen. Das bedeutet aber auch, dass ein Wechsel in die Perspektive des Anderen anstrengend sein kann und manchmal auch forciert werden muss. Zweitens besitzen wir ein sehr positives naives Freiheitsverständnis: Wir scheinen automatisch davon auszugehen, dass Freiheit immer erstmal etwas Gutes ist. Und gerade Menschen, die ich gerne als Freiheitspopulisten bezeichne, tragen zu dieser Erzählung bei und inszenieren Freiheit sogar als moralisch stets präferabel. Dabei gibt es natürlich zahllose Fälle, in denen Menschen ihre Autonomie nutzen, um Regeln zu verletzen, sich auszubreiten und auf Kosten anderer zu leben. In diesem Fall tritt ihre Freiheit überhaupt nicht positiv auf. Und zu guter Letzt scheint es vor allem zum Beispiel auch im Osten Deutschlands Grundskepsis gegenüber jedweden Formen des politischen Kollektivismus zu geben, die in meinen Augen in Hinblick auf diverse Erfahrungen mit totalitären Regimen auch durchaus gut begründet ist. Ein politisches Wir kann nämlich auch missbraucht werden, um das Leben der Ichs zu missachten oder zu entwerten. Wenn ich sage „Wir brauchen mehr Wir“ geht es mir aber nicht darum, das Individuum zu brechen. Ich möchte damit eigentlich nur sagen, dass wir bessere Spielregeln brauchen, die Rücksicht und Solidarität ermöglichen und auch unsere Krisen überwindbarer machen.
„Wir brauchen bessere Spielregeln, die Rücksicht und Solidarität ermöglichen“
Kann man das Interesse an Gemeinschaft und Solidarität fördern, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken?
Sicherlich, gerade Kindern sollte erfahrbar gemacht werden, dass auch andere einen Willen und Bedürfnisse besitzen und dass es durchaus Spaß machen kann, ihnen eine Freude zu bereiten und mit ihnen zu teilen. Aber eigentlich denke ich, sind wir ohnehin von Grund auf soziale Wesen und diese radikale Ich-Ausprägung ist eine Sonderentwicklung, die wir auch erst im postindustriellen Zeitalter richtig beobachten können. Erst, wenn wir darauf reduziert werden, wirtschaftende Individuen zu sein, ergibt es auch Sinn, primär für sich selbst zu sorgen – evolutionär gesehen scheint das nämlich unsinnig. Wir sind von Natur aus kooperierende Gemeinschaftswesen. Mir geht es daher darum, der natürlichen Verbindung, die zwischen uns besteht, Rechnung zu tragen.
„Dieses falsche Gesellschaftsbild korrigieren“
Reicht es denn aus, an Individuen zu appellieren oder sind das eher Systemfragen, zu deren Lösung es mehr bedarf?
Ich denke, es ist beides notwendig. Ein hyperindividualisierter Freiheitsbegriff ist erstmal eine Erzählung, die einen in meinen Augen falschen Blick auf Gesellschaft vermittelt. Da das eine Erkenntnisfrage ist, denke ich schon, dass es helfen kann, miteinander zu reden und dabei ein konstruktives Wir stark zu machen, um dieses falsche Gesellschaftsbild zu korrigieren. Gleichzeitig stimmt es natürlich auch, dass es auch von Nöten ist, manche Regeln unseres Zusammenlebens grundlegender zu reformieren. Das kann nicht vom Individuum geleistet werden und ist selbst im Kollektiv eine Aufgabe, die meist nur langsam bewältigt werden kann. Diese langwierigen und große Veränderungen sind also wichtig, aber kleine Veränderungen unter vier Augen können ebenso dazu beitragen. Niemand von uns kann Klimakrisen oder Gemeinwohlprobleme alleine lösen; und gleichzeitig sind wir alle davon persönlich betroffen.
Wie kann ich mein Gegenüber für Solidarität begeistern?
Das ist eine gute Frage, denn Veränderungsmuffel gibt es natürlich immer. Und hierbei ergibt sich tatsächlich ein gewisses Dilemma, denn gerade im Bereich sozialer Veränderungen ist es häufig nicht direkt ersichtlich, was sich überhaupt durch meinen Beitrag getan hat. Insgesamt gehe ich jedoch davon aus, dass wir alle von einer Gesellschaft profitieren würden, die mehr aufs Gemeinwohl ausgerichtet ist. Ein gutes Beispiel dafür sind sogenannte „bullshit jobs“: Wenn einem nicht ersichtlich wird, was die eigene Tätigkeit überhaupt für einen Sinn hat und was ich damit auch für andere leisten kann, macht uns das unglücklich. Wenn ich mich hingegen in meiner Selbstwirksamkeit bestätigt fühle, indem ich weiß, dass gebraucht werde, wirkt sich das positiv auf mein Leben aus.
Aber es gibt ja Fälle, in denen das Individuum nicht von seinem sozialen Verhalten profitiert.
Ja und dann ist es manchmal notwendig, an ein höheres Gut zu appellieren. Denn erst wenn wir alle reziprok sozialverträglich handeln, entsteht das, was wir Gemeinwohl nennen. Der Weg dorthin kann anstrengend sein oder eine intellektuelle Überbrückungsleistung erfordern, bei der ich mir erklären muss, wofür ich das hier gerade mache. Um das leisten zu können, muss man sich fragen, in was für einer Gesellschaft man leben will, aber auch was für ein Mensch man sein möchte.
„An der Minimalutopie einer besseren Gesellschaft festhalten“
Gibt es Bereiche, in denen das mit dem Gemeinwohl bereits besser klappt?
Ja, ich denke wir haben allen Grund, zwangsoptimistisch zu sein, denn selbst Katastrophen wie die Klimakrise bleiben hoffentlich bewältigbar. Es läuft ja tatsächlich auch schon einiges gut – wir verabschieden uns vom Verbrennermotor, Solarenergie wird ausgebaut, Windenergie ebenfalls, unsere Infrastruktur wird besser, es gibt mehr ÖPNV. Das alles zeigt: wir verstehen immer mehr und entwickeln uns in die richtige Richtung. Nur gehen wir zum Beispiel in Sachen Klima nicht schnell genug, um die Versäumnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte auszugleichen. Deswegen bleibt es so essentiell, an der Minimalutopie einer nachhaltigeren und besseren Gesellschaft festzuhalten, um unsere solidarischen und verantwortungsbewussten Adern zu entdecken und zu fördern. Ich glaube nämlich fest daran, dass die Welt eine bessere ist, wenn wir mehr füreinander da sind.
Was entgegnen Sie Kritikern?
Ich denke, dass wir uns die Gesellschaft nicht schlechtreden lassen sollten. Populisten und Angstmacher, die meinen, dass jetzt alles ganz schrecklich wird, weil sich die Gesellschaft wandelt, liegen falsch. Es bricht kein Totalitarismus über uns herein, nur weil wir Wirtschaft und Konsum transformieren, weil wir nachhaltiger werden. Das ist falscher Alarmismus, der Leuten Angst machen soll. Ich hoffe, dass wir in Zukunft besser darin werden, solche Strategien zu durchschauen. Dennauch das trägt zu einem konstruktiven Miteinander bei.
GEBEN UND NEHMEN - Aktiv im Thema
schoepflin-stiftung.de | Die Stiftung fördert ziviles Engagement in Bildung, Wirtschaft, Medien und Migration „als Ergänzung und Gegengewicht zu öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren“.
solidarische-moderne.de/de/article/364.alternativen-fuer-eine-gerechte-und-solidarische-europaeische-wirtschafts-und-finanzpolitik.html | Positionspapier des Institut Solidarische Moderne für eine solidarische Wirtschafts- und Finanzpolitik.
imzuwi.org | Das Impulszentrum Zukunftsfähiges Wirtschaften betreibt „Wirtschaftsmöglichkeits-Forschung mit kritischem Blick auf herrschende Ideen und Interessen“.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
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