An einer englischen Universität fand vor ein paar Wochen ein interessantes Symposium statt. „Industrielle Volksmusik for the 21st century“ lautete der Titel und es ging – logisch – um Kraftwerk. Im Zuge der Historisierung der Düsseldorfer Synth-Band wird nämlich eins gerne übersehen. Interessanter als Kraftwerk selbst ist eigentlich ihr Einfluss. Schließlich haben sie seit fast 15 Jahren keine neue Musik mehr herausgebracht. Dabei muss man gar nicht die große Linie der Popgeschichte bemühen – Afrika Bambaataa, Detroit-Techno – wenn man von Kraftwerks Erbe als „Volksmusik“ spricht. Denn selbstverständlich meint man damit nicht die mit Rundfunkgebühren subventionierte und knallhart auf Markterfolg kalkulierte Schunkelmusik, sondern etwas viel Schöneres: „Folkmusik“. Auf YouTube finden sich Tausende von Videos, auf denen die Musikanten auf ihren erschwinglich gewordenen Taschenrechnern mit Klaviatur herumspielen, eigene Sequenzen programmieren und zur Fingerübung Skrillex, Daft Punk oder Kraftwerk covern.
Etwas übersichtlicher wird es dagegen, wenn man fragt, was von Kraftwerk als Gesamtkunstwerk übrig geblieben ist. In der Regel fallen dann drei Worte: „Salon des Amateurs“. Die Bar in der Düsseldorfer Kunsthalle gilt seit gut einem Jahrzehnt schon als der Ort, wo sich Kunst und Popkultur vermengen wie zu seligen Zeiten. Seit langem mittendrin: die Kölnerin Lena Willikens. Regelmäßig steht sie hinter den Plattenspielern und spielt eklektische, aber niemals beliebige Sets, die zwischen Disco, Blues aus der Sahelzone, experimenteller Electronica undundund changieren. An einem Freitagabend im Salon weiß man nie, was passieren kann. Jetzt hat sie eine eigene Veröffentlichung vorgelegt. „Phantom Delia“ heißt sie und sie ist im komplett im Analog-Vintage-Stil gehalten. Kurze Arpeggios, leicht verstimmte Synthesizer und Midtempo-Drumcomputer. „Nilpferd“ ist eine Hymne für alle ADHS-Geschädigten, ein sanft brütendes Monster aus Sequenzen, im Nirgendwo verschwindenden Sequenzen und der sanften Aufforderung an das dicke Nilpferd, sich doch mal ein wenig zu konzentrieren – Homerecording mit Art-School-Touch.
Eine ganz andere Rechnung macht dagegen Salon-DJ-Florian Meyer unter seinem Alias „Lena Willikens“ auf. Er nutzt euklidische Algorithmen, die von einer einfachen Java-App kommen, um seine Stücke mit verschiedenen Synthesizern zu programmieren. Klingt technisch, ist aber ganz unkompliziert zu bedienen. Der Trick dahinter kommt aus der Mathematik: 2005 fand der kanadische Informatiker Godfried Toussaint heraus, dass man viele Rhythmen der Welt über diesen euklidischen Algorithmus erzeugen kann. Teure Software braucht man dafür nicht, nur ein wenig Geduld und Spieltrieb. Algorithmische Rhythmen mit dem Heim-PC – so schön klingt Volksmusik schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Was mag da noch kommen?
Lena Willikens: „Phantom Delia“ (Comeme)
Don't DJ: www.soundcloud.com/dont-dj-1
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