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Christa Stolle
Foto: Christoph Soeder

„Frauen werden teils als Besitz angesehen“

28. Oktober 2020

Die Bundesgeschäftsführerin von Terre des Femmes über Gewalt an Frauen – Teil 3: Interview

choices: Frau Stolle, was versteht man unter dem Begriff Femizid?

Christa Stolle: Femizide sind durch hierarchische Geschlechterverhältnisse motivierte Morde an Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts. So lautet die offizielle Definition seitens der WHO. Die Täter sind dabei vor allem Männer, in den meisten Fällen Partner oder Ex-Partner der Frauen. Dahinter stecken in der Regel strukturelle Probleme, die sich in einem ungleichen Machtverhältnis innerhalb der Beziehung zeigen. Um auf diese strukturellen Probleme hinter diesen Morden an Frauen aufmerksam zu machen, fordern wir von Terre des Femmes einen eigenen Straftatbestand. Laut den Zahlen des Bundeskriminalamtes von 2018 sind bei Partnerschaftsgewalt zu 81,3 Prozent Frauen betroffen, insofern ist das ein geschlechtsspezifisches Problem. Daran ist leider nicht zu rütteln.

2018 wurde jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet“

Haben Sie aktuelle Zahlen für mich, die Deutschland betreffen? Wie viele Femizide gibt es pro Jahr? Kann man auch etwas zu den sozialen Schichten sagen?

Laut BKA gab es 2018 122 Femizide in Deutschland. Das bedeutet, dass in diesem Jahr jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet wurde! Es gab noch mehr Morde an Frauen, aber wenn diese nicht in Zusammenhang mit einer Beziehung stehen, werden die Motive nicht erfasst. Auch dies fordern wir, um weiter auf die Problematik hinzuweisen. Im Gegensatz dazu werden beispielsweise rassistisch motivierte Taten erfasst. Südamerika ist da weiter. Dort wird jeder Mord an einer Frau daraufhin überprüft, ob dahinter eine geschlechtsspezifische Motivation steckt, also die Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet wurde. Grundsätzlich muss man leider sagen, dass Femizide in allen sozialen Schichten auftreten, bis hin zur so genannten Oberschicht. Hierzu könnte und sollte es noch mehr Untersuchungen geben. Fest steht aber, dass es in einer gleichberechtigten Gesellschaft weniger häusliche Gewalt und geschlechtsspezifische Morde geben würde. Daran ist man sich generell – auch in der Politik – einig.

Menschen in gesunden Beziehungen können sich kaum vorstellen, an einen Punkt zu gelangen, an dem man seinen Partner oder Ex-Partner tötet. Welche schwerwiegenden Motive stecken hinter Femiziden, wenn ein Mann eine einst geliebte Frau, vielleicht die Mutter seiner Kinder, umbringt?

In der Regel gab es in den Fällen vorher schon Gewalt in der Beziehung. Häusliche Gewalt hängt stark damit zusammen, dass Frauen in der Beziehung nicht als gleichberechtigt angesehen werden. Das hat viele Gründe: Die Frauen verdienen weniger oder sind wegen der Kinder ganz zu Hause. So verschieben sich die Machtverhältnisse, die Frauen werden teils als Besitz angesehen. Wenn sie irgendwann an den Punkt kommen, dass sie an ihrer Situation etwas ändern und die Beziehung verlassen wollen, kann es zur Tötung kommen. Femizide sind meistens Trennungstötungen. Ein spezieller Fall, den wir aber immer wieder erleben, sind Zwangsheiraten. Ehen, die unter Zwang entstehen, bleiben in der Regel ein Leben lang Zwang. Dieses Schicksal wird von den Frauen häufig irgendwann angenommen. Falls dann aber nach 20–30 Jahren in dieser Ehe noch der Versuch unternommen wird, sich daraus zu lösen, sind die Frauen stark gefährdet. Das sind dann häufig die so genannten Ehrenmorde. Strukturen und Motive bei Femiziden und Ehrenmorden gleichen sich sehr – der Gedanke beim Mann ist in der Regel: „Ich verliere meinen Besitz“. Bei Ehrenmorden steckt allerdings eine ganze Großfamilie dahinter.

Femizide treten in allen sozialen Schichten auf, bis in die sogenannte Oberschicht“

Wie werden Femizide in Deutschland rechtlich behandelt?

Wir kämpfen dafür, dass der Begriff Femizid Anwendung in der Rechtsprechung findet. um auf die strukturellen Probleme dahinter hinzuweisen. Leider werden Beziehungstaten allzu häufig als Totschlag gewertet, was sich wiederum im Strafmaß niederschlägt. Die Begründung liegt darin, dass oft niedrige Beweggründe ausgeschlossen werden, weil sich der Mann in der Situation „beraubt“ fühlt. Und damit werden Femizide häufig als Tötung im Affekt gewertet, mit geringerem Strafmaß. So genannte Ehrenmorde werden dagegen inzwischen rechtlich als Morde behandelt. Das zeigt also auch, dass es grundsätzlich gut wäre, wenn es eine bessere Datenlage zu Morden an Frauen gäbe.

Welche Maßnahmen gibt es bereits, um Femiziden vorzubeugen?

Die Prävention findet auf vielen verschiedenen Ebenen statt. Zum einen gibt es das konkrete Hilfesystem, das Frauen dabei unterstützt, sich aus gewalttätigen Beziehungen zu lösen. Das erstreckt sich vom bundesweiten Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen, welches es seit 2013 gibt, über Frauenhäuser und andere Schutzeinrichtungen, in denen Frauen sicher unterkommen können. Von da aus geht es dann weiter, wenn die Frauen Hilfe brauchen, um sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Das beginnt mit der Wohnungssuche, die zunehmend schwieriger wird, bis hin zur Kinderbetreuung, wenn man plötzlich ganz alleine dasteht. Zum anderen geht es aber auch darum, gesellschaftlich möglichen Femiziden vorzubeugen. Wir fangen beispielsweise mit der Prävention in der Schule an. Schon hier werden Mädchen niedergemacht, als Schlampen bezeichnet, oder sie hören Sätze wie: „Du bekommst ja später eh nur Kinder“. Prävention fängt dabei an, dass wir Jungs klarmachen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der das Prinzip der Gleichberechtigung gilt. Indem wir bereits im Kindesalter Geschlechterstereotype aufbrechen – das gilt übrigens für beide Seiten – beugen wir späterer häuslicher Gewalt und Morden vor. Wir haben vor circa neun Monaten ein Projekt ins Leben gerufen, das sich an junge Männer aus patriarchalischen Ländern richtet. „Men standing up for gender equality“ heißt es. Es ist eine Sensibilisierungs-Maßnahme, bei der wir junge Männer schulen und sie zu Botschaftern für Gleichberechtigung machen, die das dann in ihre Communitys weitertragen. Das betrifft vor allem den Bereich der traditionsbedingten Gewalt gegenüber Mädchen und Frauen.

Prävention fängt dabei an, dass wir Jungs klarmachen, dass wir in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben“

Wo gibt es denn konkreten Bedarf bezüglich der Maßnahmen? Welche Forderungen stellen Sie an die Politik?

Mehr Frauenhäuser und bessere Anschlussperspektiven sind notwendig und wichtig. Zusätzlich geht es uns aber darum, ein Bewusstsein für die noch immer herrschende strukturelle Gewalt an Frauen zu schaffen, um sie aufzubrechen und endlich zu beenden. Bis heute sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit, den Begriff „Femizid“ für diese Morde zu verwenden, was wir bedauern und nicht nachvollziehen können. Die Begründung ist, dass der Begriff zu viel Interpretationsspielraum gibt. Zugleich unterstützt sie aber in Südamerika als Hauptgeldgeber mit 45 Millionen Euro ein groß angelegtes Projekt zur Bekämpfung von Femiziden. Das hat für mich etwas von einer Doppelmoral. Wir fordern eine kontinuierliche und umfangreiche Datenerhebung und einen nationalen Aktionsplan, der sich an der Istanbul-Konvention, dem Maßnahmen-Katalog zur häuslichen Gewalt, orientiert. Dieser beinhaltet umfassende Präventionsmaßnahmen, die finanziert werden müssen, ebenso wie eine umfassende Aufklärung. Um das zu gewährleisten, müsste die Bundesregierung eigentlich sogar eine eigene Stelle einrichten, die sich nur damit befasst.


Femizid - Aktiv im Thema

hilfetelefon.de | Präsenz des „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten.
lag-autonomefrauenhaeusernrw.de | Die Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser NRW e. V. bietet von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern Schutz.
arbeitskreis-frauengesundheit.de/category/themen/gewalt-gegen-frauen | Der Arbeitskreis benennt Gewalt als fundamentale Einschränkung der Gesundheit.

 

Interview: Verena Düren

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