choices: Herr Kraft, Herr Erlen, das neue Stück von Futur3 „Ortschaft: Abgeschaltet“ setzt sich mit der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ auseinander. Worum geht es darin?
Stefan H. Kraft: Anfang der 1930er Jahre werden die 2.000 Bewohner des Dorfs Marienthal nahe bei Wien, die fast alle in derselben Textilfabrik arbeiten, im Zuge der Weltwirtschaftkrise plötzlich arbeitslos. Daraufhin quartiert sich ein Team junger Soziologen von der Uni Wien drei Monate in dem Ort ein und beobachtet, was vor sich geht. Daraus wurde dann die sozialpsychologische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“.
André Erlen: In der Einleitung wird die Frage: „Was wissen wir über Arbeitslosigkeit?“ formuliert. Es ging darum, die Lücke zwischen statistischen Erhebungen und Sozialreportagen von Schriftstellern oder Journalisten, die sich Einzelfällen widmen, zu schließen. „Was uns vorschwebte“, heißt es im Buch, „war eine Methode der Darstellung, die die Verwendung exakten Zahlenmaterials mit dem Sich-Einleben in die Situation verband“. Es war also die Geburtstunde der teilnehmenden Beobachtung. Um die Arbeitslosen nicht zu beeinflussen, haben die Sozialwissenschaftler verdeckt gearbeitet. Es wurden Kleideraktionen initiiert, es gab Schnittzeichenkurse oder kostenlose ärztliche Konsultationen. Und so haben die Forscher nach und nach die Zustände der Wohnungen, den Gesundheitszustand, das Einkommen, die Kinder oder die Ernährung in Erfahrung gebracht.
Was interessiert Futur3 an einer alten soziologischen Studie?
Kraft: Das hat uns angesprungen, weil die Forscher ähnlich wie wir vorgehen. Die Art der Materialsammlung setzt an vielen verschiedenen Punkten an und ist total kreativ, auch wenn sie manchmal ins Nirgendwo führt.
Erlen: Wir wollten etwas zum Thema Arbeit entwickeln und sind dann über dieses Buch gestolpert. Wir haben zwar weiter recherchiert, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass wir diese Studie verstehen wollen – und zwar nicht nur als eine Studie über Arbeit und Arbeitslosigkeit, sondern auch in ihrer Vorgehensweise. Die Forscher haben beispielsweise die Wichtigkeit des Faktors Zeit in der Arbeitslosigkeit entdeckt, wenn die nicht zielgerichtete Zeit den Tagesablauf in der Gemeinschaft bestimmt. Im Buch heißt es zum Beispiel: „Von unserem verborgenen Fensterplatz aus versuchten wir mit der Uhr in der Hand, die Geschwindigkeit zu ermitteln, mit der die Marienthaler über die Dorfstraße gehen.“
Wie spielt man eine Studie?
Erlen: Zusammen mit Judith Wilske, die Ökonomin und Theaterregisseurin ist, haben wir ein Konzept entwickelt, das sich auf zwei Bereiche konzentriert: den Makro- und den Mikroblick. Dieses ständige Vergrößern und Verkleinern, das ist unsere Herangehensweise. So wie die Forscher ständig versucht haben, den Überblick auf die gesamte Lage des Dorfes zu gewinnen, und dann wieder an die Tür einer Familie klopfen. Es ist also kein Dokutheater oder Dokufiction, bei der wir die geilsten Familiengeschichten nachspielen. Wir wollen keine Figuren entwickeln; die Schauspieler werden den ganzen Abend die Studie in der Hand haben. Aber die Wissenschaftler und die Marienthaler werden natürlich immer wieder in szenischen Skizzen aufblitzen. Die Identifikation funktioniert nicht über die Figuren, sondern die Zuschauer müssen versuchen, diesen Blick auf die Welt erfassen zu wollen, den Rausch des Erkennenwollens. Der empathische Blick verbunden mit einer wissenschaftlichen Präzision, das ist das Spannende.
Das klingt nach einer abstrakten Ästhetisierung?
Kraft: Natürlich versuchen wir, starkes Kopfkino zu machen, wir verlieren uns nicht in ästhetischen Spielereien.
Erlen: Es wird sehr viele sinnliche Anreize geben, dafür sorgt schon unser Spielort: eine alte Schlosserei in Köln-Lindenthal in der dritten Generation, die jetzt aufgibt, in deren Mauern von 1910 aber noch der Geruch von Arbeit hängt.
Was ist aktuell an der Studie? Ist Marienthal nicht ein Sonderfall, weil es ökonomisch monokulturell strukturiert war, also abhängig von einem einzigen Betrieb?
Kraft: Auch Detroit und Leverkusen sind Städte mit Monokulturen. Es gibt sehr viele
Dinge in der Studie, die zeitlos gültig sind. Hier wird unverstellt klar, dass sich die Leute keine Zeitung, kein Radio mehr leisten konnten, sie fallen in die Isolation. Es ist die Arbeitslosigkeit in Reinkultur.
Erlen: Die Studie beschreibt den Supergau der Arbeitsgesellschaft und von allem, was man mit Arbeit verbindet: Selbsterhaltung, Sinn, Kreativität. Wir haben uns gefragt, ob in der Debatte um Hartz IV wirklich niemand diese Studie gelesen hat. Es geht hier auch um das Zusammenbrechen von Kulturstufen, es geht darum, dass der Arbeitslose seine Zeit nicht nutzen kann, um sich weiterzubilden, weil ihm Sinnzusammenhang und Antrieb verlorengehen. Es geht um die Frage, was Menschen brauchen, um teilhaben zu können an der Gesellschaft.
Eine Erkenntnis der Studie ist, dass Arbeitslosigkeit zu „Resignation und Apathie“ und nicht zu einem Aufbegehren führt. Was heißt das für hier und heute?
Erlen: Diese Passivität finde ich das Interessante. Arbeit, Arbeitsmarkt, Sozialstruktur sind zwar von uns gemacht, aber man erduldet das wie eine Naturkatastrophe und wartet, bis es vorbei ist. Das sagt vielleicht auch etwas über die Machbarkeitsideale linker Gesellschaftsmodelle. Die Vermutung der Soziologen ging damals dahin, dass es keinen Aufstand geben wird, sondern nur „individuelle Rettungsversuche“. Und das kann man auch heute feststellen. Jeder guckt, wie er durchkommt.
Kraft: Wir sind während der Proben immer wieder bei der Frage des bedingungslosen Grundeinkommens gelandet. Eines der großen Argumente ist, dass man den Leuten, die keine Arbeit haben, die Stigmatisierung, den moralischen Druck nimmt und dadurch das psychische Elend lindern könnte. Arbeit für alle wird es nicht geben, aber es sollte einfach nicht mehr so beschissen sein, keine zu haben.
„Ortschaft: Abgeschaltet“ | Regie: André Erlen |Alte Schlosserei Lindenthal, Gleueler Str. 203, Köln| 26.(P)/27.-29.4./3.-6./10.-13.5., 20.30 Uhr |0221 985 45 30
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