Was berichtet da neulich der „Spiegel“: Die Länge eines Liedes der US-amerikanischen Billboard Hot 100 belief sich im Jahr 2000 im Schnitt noch auf gute vier Minuten, im Jahr 2017 aber – der Satz ist gleich zu Ende, wir hoffen, Sie können noch folgen – im Jahr 2017 dagegen ist die durchschnittliche Spieldauer der Songs um eine halbe Minute, sprich: um 12,5% geschrumpft. Der Grund, Sie ahnen es: allgemeines Aufmerksamkeitsdefizit der Zuhörerschaft. Wenn man bedenkt, dass die Hits in den 80er Jahren noch als Maxi Singles auf begehrte Zehnminüter gestreckt wurden! Nun, heute ist der Mensch eben ständig überall – und nirgends. Wenn er Musik hört, checkt er die Kinostarts, sitzt er im Kino, streamt er den neuen Musikclip. Alles andere wäre ja Vergeudung kostbarer „Lebenszeit“.
Verlust von Lebenszeit: auch so eine Phrase, auf die der Wohlfühlbürger hierzulande zurückgreift, sobald er sich durch die Rezeption nicht gefälliger medialer Formate seiner Existenz beraubt sieht. Und damit im Umkehrschluss allen Ernstes von sich behauptet, er täte ansonsten nur Lebenszeitwertes. Wie auch immer: Ein Song ist heute kein Song mehr, sondern nur noch willkürliche Auswahl einer Flatrate, im Idealfall kostenfrei. Und was nichts kostet, ist nichts wert. Und was nichts wert ist, verdient keine Wertschätzung und also bitte schon gar nicht meine, da ist sie schon wieder: Lebenszeit.
Auch wenn wir keine vergleichbare Studie erhoben haben, fragen wir Cineasten uns derweil: Ganz anders als das zeitgenössische Liedgut, werden Filme gefühlt doch eher länger als kürzer, im Fernsehen sprießen epische Serienformate wie lange nicht! Wie kann das sein? Nun, im Zeitalter der Reizüberflutung hat es die Musik, die ja „nur“ das Ohr fordert, vergleichsweise schwer. Der Großteil der letzten ESC-Beiträge legte die Vermutung nahe, dass es heute eher auf das Drumherum ankommt als auf den Song selbst. Musik erfordert Zusatzreize, wer setzt sich schließlich noch zu Hause in den Sessel und lauscht fokussiert ein komplettes Album? Wer hält das noch aus?
Das Kino dagegen bietet Reizüberflutung im besten Sinne. Es zieht uns audiovisuell in seinen Bann und triggert über Fakt und Fiktion das gesamte Spektrum unserer Emotionen. Abschweifen? Eigentlich unmöglich. Und sollte Ihnen das vor der Leinwand doch mal passieren: keine Angst! Sie leiden nicht zwingend unter einem Aufmerksamkeitsdefizit, vielleicht ist ja der Film, auch das kommt vor, bloß langweilig. Zum Glück aber studieren Sie just unsere sorgsam erstellte Verpackungsbeilage und sind gefeit gegen etwaige Unverträglichkeit.
Kino kostet Eintritt. Zu Recht. Kunst gehört bezahlt. Vielleicht verdient ein Kinofilm ja allein schon deshalb automatisch mehr Aufmerksamkeit als ein Song, weil er etwas kostet? Das soll nicht heißen, dass alles, was kostet, von Wert ist. Was wir aber wissen: Egal, ob im Monat Juli „Nuestro Tiempo“ mit drei Stunden oder „Das melancholische Mädchen“ mit 80 Minuten Laufzeit – Kino ist fast immer eines: kostbar genutzte Zeit. Danke für die Aufmerksamkeit.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die hemmungslose Leinwand
Sexualität im Kino – Vorspann 10/24
Sorge um die Filmkultur
Veränderungen und Einsparungen stehen vor der Tür – Vorspann 09/24
Sommer-Endspurt
Humor und Weltrettung für Jung und Alt – Vorspann 08/24
Pssst!
Zu Spoilern, Prequels und Remakes – Vorspann 07/24
Sternenkriege und Weißer Terror
Volles Sommerkinoprogramm – Vorspann 06/24
Ernster Mai
Der Frühling schwemmt viele Dokumentarfilme ins Kino – Vorspann 05/24
Show halt
Die Sache mit dem Oscar – Vorspann 04/24
Schöne Aussichten im Kino
Der Festivalauftakt in Berlin verspricht ein gutes Filmjahr – Vorspann 03/24
Krieg auf der Leinwand
Wenn Film über die Front erzählt – Vorspann 02/24
Neue Wege gehen
Starke Persönlichkeiten im Kino – Vorspann 01/24
Filmpolitik im Umbruch
Hoffnung auf Neuregelung und Sorge vor Sparzwang – Vorspann 12/23
Populistische Projektionsfläche
Über zwei befremdliche Filmpräsentationen – Vorspann 11/23
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
„Mir wurden die Risiken des Hebammenberufs bewusst“
Katja Baumgarten über ihren Film „Gretas Geburt“ – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Nach Leerstellen suchen
„Riefenstahl“ im Weisshauskino – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Schnitte in Raum und Zeit
Die 24. Ausgabe des Festivals Edimotion in Köln ehrt Gabriele Voss – Festival 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
„Zuhause sehnen wir uns nach der Ferne...“
Kuratorin Joanna Peprah übers Afrika Film Fest Köln – Festival 09/24
Afrikanisches Vermächtnis
Das 21. Afrika Film Festival widmet sich dem Filmschaffen des Kontinents – Festival 09/24
Kurzfilmprogramm in der Nachbarschaft
„Kurzfilm im Veedel“ zeigt Filme zu aktuellen Themen in Köln – Festival 09/24