Jedes Gliedmaß zittert, Sorour Darabi sabbert. Mit großen Augen, die hin und wieder nervös zucken, und einer Zunge, die sich ständig über die Zähne streicht, bewegt er*sie sich auf einen Tisch hinzu, auf dem ein großer Stapel Blätter liegt. Jede Bewegung scheint mit einer großen Anstrengung verbunden zu sein, den Körper in die richtige Richtung zu schieben. Und so fallen die Blätter auf den Boden, einige zerreißen. Die Person, die Darabi verkörpert, passt hier einfach nicht hin. Sie scheint Angst zu haben und nicht mit ihrer Umgebung umgehen zu können.
Der Titel „FARCI.E“ ist angelehnt an Darabi's Muttersprache Farsi, in der es keine weiblichen und männlichen Formen gibt, wie zum Beispiel im Deutschen und Französischen. Als Sorour Darabi nach Frankreich zog, um in Montpellier Tanz zu studieren wurde er*sie gezwungen zwischen männlichen und weiblichen Formen zu unterscheiden, selbst im Studium der eigenen Bewegungssprache.
Wir erfahren nicht, was auf den Zetteln steht. Darabi schüttet Wasser auf sie und die Schrift zerläuft. Langsam spielt er*sie mit den Fetzen und fängt an, sie sich in den Mund zu stopfen. Mit der wachsenden Hoffnung zu erfahren, was auf ihnen steht, dauert das Schweigen an. Und Darabi stopft und stopft und spuckt die Klumpen aus, bis sie flüssig sind. Nur die Gesten sprechen für sich. Mit unglaublicher Spannung wird so der Abend eröffnet.
„Urbäng“ mit seinem knalligen Grafikdesign schlägt ein und trifft den Zeitgeist. Seit seiner Premiere im letzten Jahr fällt das an der Orangerie verortete Festival für performative Künste auf in Kölns Kulturlandschaft. Der Wunsch, Erfahrungen zu kreieren und zu teilen, wird immer populärer. So bietet es sich natürlich auch an, Situationen greifbarer zu machen, die nicht jeder gleich wahrnimmt. Wie es zum Beispiel ist in einer Welt zu leben, in der man ständig mit seiner Geschlechtsidentität konfrontiert wird, wie in Sorour Darabi's Performance, ausgezeichnet mit dem Jurypreis des Zürcher Theaterspektakels. Der*die Transgender-Künstler*in aus dem Iran zeigt, was passiert, wenn man aus einer neutralen Welt kommt und plötzlich ein Geschlecht hat.
Antje Prusts Auftritt erinnert ein wenig an einen Fitnesscoach und Entertainer von einem anderen Planeten, aber sie selbst bezeichnet sich in der Performance als Hexe des Covents of Cunts. Mit neonpinker Bemalung zitiert sie Solange, Stokowski und ihre Mutter und greift damit feministische Popkultur auf, die sich langsam in alle Köpfe brennt. Prust möchte neue Rollenbilder schaffen und neue Geschichten erzählen. Sie entwickelt queer-feministische Mythologien und ihre Performance beim Urbäng-Festival soll „ein Ritual zur Abschaffung des Patriarchats“ darstellen, wie sie es in einem Interview mit dem Deutschlandfunk nennt. Gerne sehr direkt und radikal. Prust ist Teil des Kollektivs „Talking Straight“, die laut Website „immersive, post-post-humane Dienstleistungen“ anbieten. Diese sind auf jeden Fall weiterzuempfehlen.
Danach rollt Akiko Ahrendts ihre Dancemat aus. Ihre rund fünfminütige Arbeit erinnert ein wenig an ein Videokunstwerk, ein kleiner Loop, nur das man ihn real beobachten kann. Die KHM-Absolventin, die vor allem für ihre Soundarbeiten bekannt ist, tanzt auf der Dancemat und Audiodateien, die mit ihr verbunden sind, werden hörbar. Verschiedene Möglichkeiten „Ja“ auszusprechen, verweben sich miteinander. Ganz simpel angefangen werden Körper, Sound und Technik in immer komplexere und 4spannende Abhängigkeiten gebracht.
#femalegaze („weiblicher Blick“), der Titel der Veranstaltung und ein feministischer Begriff aus dem englischsprachigen Raum, der als Gegenstück zum von der Filmkritikerin Laura Mulvey geprägten Begriff „male gaze“ („der männliche Blick“) entwickelt wurde. Er beschreibt, wie Frauen vor allem in den bildenden Künsten und der Literatur charakterisiert werden, traditionell natürlich vor allem von heterosexuellen Männern, die ein recht konformes „Bild“ von Frauen erschaffen haben, gerne nur als Muse und nicht als Akteurin. Durch die Debatte, die nach dem viralen „Metro“-Hashtag folgte, wurde auch dieser Begriff vermehrt diskutiert.
An dem von der Choreografin und Medienkünstlerin Stephanie Thiersch und der Dramaturgin Felizitas Stilleke kuratierten Abend gab es auch eine Diskussion zu dem Thema. Statt einer tiefen Auseinandersetzung dazu wurde unglücklicherweise vom Aufhänger der Abendveranstaltung weggelenkt und es folgte eine Unterhaltung über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Menschen und Meinungen, eine kurze Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Begriffes „Feminismus“, die wenig konstruktiv war und einen bitteren Nachgeschmack von dem Abend hinterließ, der zuvor wirklich erstklassige Performances bot. Aber so kann es auch passieren, wenn man mutig ist und neue Formen des Diskurs und der Wahrnehmung und das Teilen von Erfahrungen erprobt
Zum Abschluss des Abends legte die Musikerin Mary Ocher ein aktivistisches DJ-Set mit Musik aus allen Zeiten, Kulturen und Stilen auf, das sie mit ihrer Lyrik verband.
Wie können also neue Geschichten erzählt und Sichtweisen dargestellt werden, unabhängig von dem durch vorrangig heterosexuellen, weißen Männern geprägten Weltbildern? Ohne und mit Worten haben die Performances Antworten gegeben und noch viele weitere neue Perspektiven und Formen des Erzählens geöffnet.
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