Bach pilgerte 1705 regelrecht nach Lübeck, um einem seltenen Vogel an der „Königin der Instrumente“ zu huldigen: Dietrich Buxtehude schlug hier seit bald vier Jahrzehnten die Orgel, seine Abendmusiken waren legendär, sie galten als Hitschmiede in diesen dunkleren Tagen. Buxtehude hatte wie damals üblich die Tochter seines Vorgängers ehelichen müssen, um auf die feste Bank und die Empore in St. Marien zu gelangen. Auch sein Nachfolger blieb von diesem schönen Brauch nicht verschont, der Kantor hatte einige Töchter im Angebot. Vielleicht interessierte sich deshalb Bach nicht für die – bald frei werdende – Stelle, aber er hatte den 400 km langen Fußweg nicht gescheut, um die Musik dieses Altmeisters zu hören und sogar eventuell Unterricht bei ihm zu nehmen.
„Überleben“ hat jetzt das Festival Alte Musik Knechtsteden sein diesjähriges Programm überschrieben, und Buxtehudes Oratorium „Wacht! Euch zum Streit gefasset macht!“ oder „Das Jüngste Gericht“ liefert klare Grundregeln dafür: Buxtehude geißelt Trunksucht und erotische Verderbtheit und wettert gleich auch gegen gierige Kaufleute, dies alles in einem Mix aus Dichtung, Bibelzitaten und Chorälen. Es könnte sich hierbei um die einzige erhaltene Abendmusik des Komponisten handeln.
Auf kriminalistische Spurensuche begeben sich der Künstlerische Leiter Hermann Max und sein Gast Karl-Heinz Göttert, emeritierter Germanistikprofessor und Spezialist zum „Mythos Redemacht“, nebenbei Orgelkenner und Romanschreiber, bereits im Einführungsgespräch in der Klosterbibliothek. Max bittet jetzt sein Publikum schon zu den Proben als Besucher, um dem Entstehungsprozess der Stücke beizuwohnen und zu erfahren, wie spannend und brisant das Geschäft mit den Kunstwerken der Alten Musik sein kann. Eigene Gedanken zum Erlebten dürfen die Festivalgäste dem Chef nach Hause schicken, in Knechtsteden existiert ein Festivalbetrieb, der Nachhaltigkeit provoziert: Hermann Max möchte seine unerschütterliche Begeisterung für die Musik weitergeben.
Dass dies bei dem Reichtum an Stoffen und den auch hier präsentierten interdisziplinären Aufweichungen zu Literatur, Schauspiel und Bildender Kunst im Spiel mit der omnipräsenten Architektur und Geschichte ein nie versiegender Quell bleibt, das zeigt auch das aktuelle Programm. Gregorianischer Chorgesang aus Estland und Motettenkunst (mit Vox Bona), ein Orgelkonzert, Telemanns „Markuspassion“ aus 1759 vom Hausherrn und seinen Ensembles, ein Abend mit der Kreutzersonate von Tolstoi (gelesen von Rainer Iwersen) und Beethoven (mit den Stars Midori Seiler und Kristian Bezuidenhout) und eine Eröffnung mit Beethovens Fünfter scheuen keine noch so großen Aufgaben. In Beethovens Schicksals-Schatten gedeiht dann aber doch auch ein unbekanntes Pflänzchen, das Oratorium „Die vier letzten Dinge“ von Joseph Edler von Eybler, in seinen Tagen als „das größte Genie“ nach Mozart gerühmt. War das nicht Beethoven? Knechtsteden stellt die richtigen Fragen, das bleibt spannend.
Festival Alte Musik Knechtsteden | 22. - 29.9. | www.knechtsteden.com
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