Klischees holen uns immer wieder ein. Wer glaubt nicht zu wissen, was ein Flamenco ist, zumal sich für die meisten Menschen außerhalb Spaniens kaum die Unterschiede in der Tradition des Flamenco erschließen. Das Flow Dance Festival 2014 eröffnete jetzt sein Programm mit „Lo Real“ einer Produktion von Israel Galván, die als Gastspiel der Bühnen Köln im Depot 1 gezeigt werden konnte. Galván stammt aus Sevilla, beide Eltern verdienten ihr Brot als Tänzer. In seinen Choreographien steht der 41-Jährige oftmals selbst auf der Bühne und für „Lo Real“ wurde er in Spanien mit Auszeichnungen nur so überhäuft. Den Folklore-Aspekt tilgt Galván konsequent, steigt aber tief in die dunkle Historie des 20. Jahrhunderts hinab, in der die Verblendung von Kitsch und Kunst mit ihren tödlichen Folgen auf gnadenlose Weise deutlich wird.
So drehte Leni Riefenstahl 1940 den Film „Tiefland“. Dazu holte sie sich 68 Sinti und Roma aus einem Konzentrationslager, um sie wegen ihres südländischen Aussehens einzusetzen. Nach Beendigung der Dreharbeiten brachte man die Komparsen zurück ins Lager. Die Nationalsozialisten besaßen eine Schwäche für „Zigeunerromantik“. Diese Form der Sentimentalität beschäftigte Israel Galván, weil sie auf besondere Weise den Realitätsverlust einer Gesellschaft verdeutlicht, die ihre ethische Basis verloren hat. Schon mit dem Titel richtet Galván den Blick auf das Reale, jene unverhüllte Lebendigkeit, die sich der Repräsentation durch Metaphern entzieht. Die Menschen, die im KZ ermordet wurden, waren eine Realität und keine fiedelnden Zigeunerklischees der Unterhaltungsbranche. Israel Galván enthält sich denn auch jedem Versuch, das historische Geschehen bildlich zu zitieren. Der Spanier erzählt keine Geschichten und konstruiert keine metaphorischen Bezüge. Galván tanzt Flamenco, keine Duette, auch die beiden Tänzerinnen Isabel Bayón und Balbina Parra bieten ausschließlich Soli.
Puristisch, oder besser gesagt, knochentrocken bietet Galván den Flamenco dar. Jegliche traditionelle Dekoration wird abgestreift, auf der großen Bühne des Depots sind nur technische Gerätschaften der Aufführung zu sehen. Den Boden benutzt der Spanier als eine Art Instrument, das leidenschaftlich in den stampfenden Soli genutzt wird. Der Gesang von Tomás de Perrate und David Lagos transportiert die inhaltlichen Zusammenhänge und die klagenden Gesänge stellen denn auch den eigentlichen Motor der Inszenierung dar.
Ein paar Eisenträger und ein kaputtes Klavier, dessen ausgefaltete Saiten für einen Moment an den Stacheldraht eines Lagers erinnern, bilden die einzigen bespielbaren Objekte. Eindrucksvolle Intensität entsteht in den kraftvoll getanzten Auftritten, die nur in den Rollen von Mann und Frau unterschieden werden. Trennung voneinander ist oberstes Gebot, so dass keine anekdotische Verbindung entsteht. Auf der Stelle erfolgen die Bewegungen. Sie bleiben ein tänzerisches Faszinosum, dem man beiwohnt, ohne dass der Raum oder das Thema von ihr berührt würden. Das Kölner Publikum zeigte sich von dieser spröden Kost begeistert und klatschte stehend Beifall.
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