Vielleicht wäre sie in einem anderen Leben ein Fernsehstar geworden. Dazu ist es zum Glück nicht gekommen, so dass uns Sylvana Seddig genüsslich die bräsige Ästhetik der Unterhaltungsshows um die Ohren hauen kann. Da gibt es die große Kulisse mit vielen weißen Ballons, die hier durchaus mit Spermazellen assoziiert werden dürfen. Es gibt bombastische Musikcollagen, Auf- und Abgänge der Diva, die als Gogo-Girl den Besuchern auf dem Schoß sitzt oder als Gesprächspartnerin mit dem Publikum den Zustand der Welt in Barnes Crossing diskutiert. Eine Solo-Show mit allem was dazu gehört und noch ein bisschen mehr bietet Sylvana Seddig in ihrer neuen Produktion „Tanzsylvanien“, deren Titel schon auf einen speziellen Hang zur Egomanie hindeutet.
Ziemlich forsch, wie sie das Publikum mit ihrer Person und ihrem Körper konfrontiert. Andere würden sich darin verlieren, selbstvergessen die Aura des Ich im Licht der Scheinwerfer vergolden. In der 70-minütigen Produktion, die Tanz, Performance und multimediales Spektakel umfasst, gibt es jedoch nicht eine Aktion, die unreflektiert ein Bild um seiner selbst willen oder als bloße Dekoration präsentieren würde, wie man es in so manch anderer Tanzproduktion sehen kann. Stets wird der Blick auf den Körper mit gedacht. Wer glaubt, schon alles an Nacktheit auf der Bühne gesehen zu haben, wird hier eines anderen belehrt, Sylvana Seddig spürt zielsicher die Tabus auf, die auch heute noch in den schattigen Ecken einer sich liberal gebärdenden Gesellschaft existieren.
In Großaufnahme zeigt sie uns ihre Tänzerinnenfüße, pult an Schrammen und Schwielen. Wenn es um den Körper geht, dann macht sie ernst, denn der Körper wird ihr zum Garanten der Wahrheit. Sie bürgt sozusagen mit ihrer eigenen Haut für ihre Kunst, dazu gehört auch der gynäkologische Blick, ja, sie zieht sich fast die Haut vom Leib und zeigt uns die Aktionen in Großaufnahme mitten in der bonbonbunten Fernsehdekoration. Hier wird der Körper zum Zeugen unseres Daseins in der Zeit. Das ist im klassischen Sinne die Rezeptur einer Performance. Schönheit kommt vor, aber eher als Nebenprodukt. In ihrem Habitus erinnern diese Szenen an die Akte eines Egon Schiele, in denen der Körper auch mehr von seiner Vergänglichkeit als vom Sex erzählt.
Sylvana Seddig verbindet diese Momente des Authentischen, die sie ihrem Publikum schenkt, nicht mit bierernsten Kunstkonzepten. Ihre manchmal kraus formulierten Manifeste kontert sie mit Humor in der Stimme und mit ihren Tanzeinlagen. Die besitzen einen Witz, wie man ihn nur noch selten auf dem Tanzboden erlebt. Selbst wenn sie den weiblichen Part beim Geschlechtsakt spielt, verwandelt sich ihre Parodie in eine solch exzessive Vorstellung, dass sich Passion und Groteske letztlich umarmen. Manchmal denkt man dann, hier spielt jemand um sein Leben.
Tatsächlich hat sie mit jeder neuen Produktion viel riskiert, manchmal sah es so aus, als sei sie ästhetisch in eine Sackgasse geraten und doch ist es ihr immer wieder gelungen, sich selbst neu zu erfinden. Die Entschlossenheit, mit der sie dabei zu Werke geht, sucht ihres Gleichen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Tanz auf Augenhöhe
„Chora“ in der Tanzfaktur – Tanz in NRW 12/23
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23