Mittwoch, 19. Oktober: Gerd Haag hat schon unzählige Dokumentar- und Spielfilme produziert, darunter etliche preisgekrönte. Zugleich ist er Professor für Kreativ Produzieren an der ifs. In beiden Eigenschaften präsentierte er bei der „ifs-Begegnung“ im Filmforum die Dokumentation „Sonita“.
Diese zeigt eine 18-jährige Afghanin, die illegal in Teheran lebt, sich mit Putzen über Wasser hält und von einer Karriere als Rapperin träumt. Unterstützt wird sie von einer NGO-Schule für Straßenkinder. Zu diesem Zeitpunkt beschließt die iranische Regisseurin Rokhsareh Ghaem Maghami, einen Film über Sonita zu drehen. Da taucht ein bedrohliches Problem auf: Ihre Familie will Sonita verheiraten und einen Brautpreis von 9.000 Dollar kassieren. Damit wiederum will ihr Bruder eine Ehefrau kaufen. Die Mutter reist von Herat nach Teheran, um Sonita zu holen. Diese wehrt sich, hat jedoch keine Chance gegen die Matriarchin, die als Kind selbst zwangsverheiratet wurde: „So ist es nun mal.“ In dieser Situation muss sich Regisseurin Ghaem Maghami entscheiden: Ist sie weiterhin neutrale Beobachterin oder greift sie in das Geschehen ein, um Sonita zu helfen? Sie ermöglicht dem Mädchen, einen Song aufzunehmen und ein Video zu drehen. In diesem rappt sich Sonita ihren Schmerz über die Zwangsverheiratung von Mädchen gegen Geld von der Seele. Das Wunder geschieht: Der Clip „Brides for Sale“ wird zigfach geklickt. Ein US-College bietet Sonita ein Stipendium an. Eine neue Hürde taucht auf: Sonita muss nach Afghanistan zurückkehren, um Papiere und Visum zu erhalten. Gelingt dies nicht, ist die Zwangsheirat unausweichlich. Protagonistin und Regisseurin gehen das Risiko ein – und gewinnen. Sonita reist an das College, wo sie eine Musikausbildung erhält und begeistert gefeiert wird.
Der Film gewann beim Sundance Filmfestival den Preis der Grand Jury als auch den Audience Award in der World Documentary Competition. Auf dem Internationalen Dokumentarfilmfest Amsterdam erhielt er den Publikumspreis und den Preis der Jugendjury. Beim International URTI wurde er mit dem Grand Prix for Author´s Documentary ausgezeichnet.
Derartig geehrt trat Gerd Haag nach der Vorführung dem Publikum gegenüber. Eingangs erläuterte er, dass Ghaem Maghami wegen des Films nicht mehr in den Iran zurückkehren könne. Dass die Schulleiterin aufgrund ihrer Hilfe ihren Job verloren habe. Dass der Kontakt zu Sonita abgebrochen sei, die sich nach Promotion-Touren wieder auf ihr Studium konzentriere. Dass Zwangsheiraten auch in Mittel- und Südamerika weit verbreitet seien. Doch dann nahm der Abend einen unvorhergesehenen Verlauf. Gleich das erste Publikumsstatement kritisierte eine Szene, in der Sonita die Regisseurin bittet, die Kamera abzuschalten, da sie müde sei, doch diese weiterdreht und Fragen nach dem Kopftuch stellt, um Sonita zu einem selbstbestimmten Umgang damit zu ermutigen. Dies wurde von Teilen des Publikums als respektlos empfunden. Andere wiederum verteidigten die Aktion: Filmemachen sei immer Eingriff in das Geschehen. Ein Iraner erklärte, dass die Untertitelung irreführend, das Gespräch harmlos sei. Statt um das heikle Thema der Zwangsverheiratung kreiste die Diskussion um eine einzige Szene, die im Gesamtkontext nebensächlich war. Dies wurde dem Film mit seiner beeindruckenden Protagonistin und wichtigen Botschaft nicht gerecht. Dass zum Abschluss die vermeintlich schlechte Lesbarkeit der Untertitel kritisiert wurde, war nur mehr das Tüpfelchen auf dem i.
Der Film steht am Sonntag auch beim Festival Filmplus auf dem Programm (15 Uhr, OFF Broadway).
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