Neulich, nach einem Konzert in einer eh schon intimen Bar, bin ich auf einer noch intimeren Party in einer Altbau-WG gelandet. Stuck und Parkett hatten ein wenig Patina, die Gäste nicht. Trotzdem herrschte Stille, kein Flüstern, kein „Hey, wie geht’s?“.Der Grund dafür befand sich im Nebenzimmer: zwei Musiker. Sie an der Violine, er an der Akustikgitarre,und Gesang. Keine Verstärker, keine Mikrofone. Und im Zimmer saßen ein paar Medientypen plus Freundeskreis und lauschten konzentriert. Es war ein ruhiger Abend, keine Unterhaltungen, keine Bierbestellungen, nur die Musik und ihre Zuhörer. Das klingt heimelig, vielleicht auch ein wenig spießig. Aber es ist kein Einzelfall. In Köln-Ehrenfeld hat das Motoki Kollektiv mit seinem Wohnzimmer nicht nur eine Konzertlocation für Blues, Jazz und Singer-/Songwriter-Pop gegründet, sondern auch gleich einen Treffpunkt für die Nachbarschaft geschaffen, wo tagsüber gearbeitet werden kann und man abends beieinander sitzt. Und die Kiosk-Konzerte in den verschiedenen Kölner Büdchen finden nicht nur im Schein von Neonröhren und Kühlschrankbeleuchtungen statt, sondern werden recht spontan auf Facebook angekündigt. Kostenlos sind sie allemal.
Gründe für die neue Heimeligkeit bei Popkonzerten mag es viele geben. Seitdem Auftritte nicht nur für Musiker zu einer wichtigen und notwendigen Einkommensquelle geworden sind, steigen die Preise. Selbst Nachwuchs-Acts kann man selten unter 15 Euro Eintritt sehen. Und wer kann sich das bei sinkenden Reallöhnen und steigenden Mieten noch regelmäßig leisten? Genau. So sinkt bei konstant hohem Angebot der Kreis der potentiellen Konzertbesucher,und für kleine Acts wird ein Wohnzimmergig mit austeritätsakustischem Instrumentarium zur echten Alternative. Parallel dazu fehlen der Stress der angemeldeten Gastronomie, die Besuche vom Ordnungsamt, die Lautstärkebeschwerden der Nachbarn,und über ein Rauchverbot kann man zur Not per Handzeichen abstimmen. Und Bier ist eh billiger, wenn man es selbst mitbringt.
Aber es wäre falsch, die neue Hausmusik nur als krisenbedingtes Rückzugsphänomen zu verstehen. Denn eine solche Familiarität kann Programm sein – weil man Lust aufs Selbermachen hat oder die Musik eh nicht für ein mittelgroßes Indiepublikum gemacht wäre. Im Unrock-Plattenladen in Essen-Rüttenscheid räumt Ladenbesitzer Michael Stahl regelmäßig die Möbel in seinem Hinterzimmer beiseite, um dort Platz für Musiker zu machen, die die Grenzen von Blues oder Songwriting ausloten. Der Kontrast mit der typischen Ruhrgebiets-Nachkriegsbebauung könnte nicht größer sein. Und die Baustelle in Köln-Kalk hat sich in den knapp anderthalb Jahren ihres Bestehens zum besten Wohnzimmer der Stadt für experimentelle Popkultur gemausert. In einer alten Garage spielen Noisebands mit Kunsthochschulabschluss, Cellistinnen mit Effektgeräten, es wird Kunst ausgestellt,oder man trifft sich zu Lesungen und Diskussionen. Das ist nicht mehr nur Pop im Wohnzimmer, sondern schon Pop im Eigenbau-Salon.
Motoki Kollektiv | Stammstraße 32-34,Köln | www.motoki-kollektiv.de
Kiosk Konzerte Köln | nächster Termin: 8.6. | www.facebook.com/kioskkonzerte
Unrock | Klarastraße 47,Essen | www.unrock.de
Baustelle Kalk | Kalk-Mülheimer Straße 124,Köln | www.baustellekalkpost.blogspot.de
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