Köln: Die Extravaganz von Lady Gaga oder Björk bedarf der kreativen Hände jener Menschen, die den Stars erst ihren glamourösen Auftritt ermöglichen. Iris van Harden hat beiden Sängerinnen schon Aufsehen erregende Kostüme entworfen, jetzt beschert die niederländische Designerin der neuen Choreographie von Sasha Waltz einen besonderen Look.
Grazile weiße Wölkchen bewegen sich über die Bühne der Oper Köln. Mitunter schlüpft eines zum anderen, aus einer Tänzerin werden zwei und bald schon wird man des Zeugungsakts gewahr, der sich hier mit ironischer Verspieltheit ereignet. Die Wölkchen sind Zellen, die sich vereinigen und am Beginn einer Reise durch die Menschheitsgeschichte stehen. Was so niedlich und sexy beginnt, erhält bald ganz andere Tonlagen.
„Kreatur“ nennt Sasha Waltz ihre Produktion, mit der sie an ihre Anfänge als Choreographin anknüpft, wenngleich die Erfahrung eines schöpferischen Lebens in seiner ganzen Fülle in diese Choreographie eingegangen ist, die sich wie ein Statement über die Zeit liest. Es ist gut, dass sie mit dieser Arbeit, die vor zwei Jahren Premiere feierte, nun auch im Rheinland gastierte, da diese Produktion so etwas wie die Speerspitze des aktuellen Tanzschaffens in Deutschland darstellt.
Das Thema besitzt archaische Dimension, und doch wird es keinesfalls wuchtig präsentiert. Anekdotisch wie das Spiel der weißen Geschöpfe zu Beginn, setzt sich die Inszenierung fort. So arbeitet Iris van Harden etwa mit Folien, die ihre Kostüme wirken lassen als würden sie sich eigenständig bewegen. Sasha Waltz liefert eine große Produktion und vermeidet doch die großen Gesten. So gelingt es ihr umso überzeugender die Komplexität des Lebens darzustellen. Leben, das zunächst nicht mehr als Biochemie zu sein scheint und in seiner Bildsprache an die Tabula rasa der Malerei eines Yves Tanguy erinnert.
Urs Schönebaum, der schon für Marina Abramović und Michael Haneke arbeitete, liefert das kalte Licht für diese Sequenzen, die uns mit ihrer amorphen Vielgestaltigkeit vor Augen führen, woher wir kommen. Später sammeln sich Kreaturen zu Horden, die einzelne Wesen ausstoßen oder durch Fliehkräfte gesprengt werden. Solche Bilder, die scheinbar primitive Prozesse visualisieren, sind doch voller politischer Bezüge, wenn man an die Situation eines europäischen Gebildes denkt, welches sich von allen Seiten den Spaltungsversuchen zu erwehren hat.
Szenen der Gewalt schleichen sich ein, Ohnmachtsgefühle steigen auf und das Schema von Dominanz und Unterdrückung wird mit Verve inszeniert. Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Abgründigkeit menschlicher Verfasstheit, wenn das 14-köpfige Ensemble dicht gedrängt auf einer Klippe steht, jemand rutscht ab. Wird man die helfende Hand reichen?
Niemand schert aus diesem famosen Ensemble in eine Solorolle aus. Es sind stets Breitwandbilder, mit denen Sasha Waltz arbeitet. Bilder, die mit dem hämmernden Klangteppich des Soundwalk Collective ins Bewusstsein des Publikums gestanzt werden. Eine gewisse akustische Monotonie bekommt der Choreographie, die virtuos die Entwicklung des Menschengeschlechts über dem Moment seiner Bewegung entfaltet. Das geschieht allerdings so virtuos, sinnlich und klug, dass die Standing Ovation des Kölner Publikums nicht ausbleiben konnte.
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