Uberto Pasolini, ein Neffe des Regisseurs Luchino Visconti, wurde 1957 in Rom geboren. Nachdem er jahrelang als Investmentbanker in England gearbeitet hatte, wandte er sich dem Produzieren von Filmen zu („Ganz oder gar nicht“, „Bel Ami“). Seit 2008 arbeitet er auch als Regisseur, mit „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ war er auch hierzulande erfolgreich. Sein neuer Film handelt von einem sterbenden jungen Mann, der eine Adoptivfamilie für seinen kleinen Sohn sucht. „Nowhere Special“ startet am 7. Oktober in den Kinos.
choices: Mr. Pasolini, wie sind Sie zum ersten Mal in Kontakt mit dieser Geschichte gekommen, die ja auf tatsächlichen Begebenheiten basiert?
Uberto Pasolini: Ich habe einen Zeitungsartikel gelesen unter der Überschrift „Vater stirbt an Krebs und sucht eine Familie für seinen Sohn“. Dann habe ich mir die Frage gestellt, wie man selbst als Elternteil handeln würde, falls man in diese Lage gerät. Ich bin Vater von drei Mädchen, die aber erfreulicherweise alle schon erwachsen sind, mich also nun nicht mehr ganz so sehr vermissen würden, wenn ich sterbe. Aber wenn dein Kind erst vier Jahre alt ist, wie spricht man dann mit ihm darüber? Was da gerade körperlich mit einem passiert, was es bedeutet, wenn man eines Tages einfach nicht mehr da ist. Der Mann im Artikel hatte keinerlei Familie, auch die eigenen Eltern waren nicht mehr da. Wie findet man da eine Ersatzfamilie? Dann kommt die Frage hinzu, was ist eine perfekte Familie, gibt es eine perfekte Familie für mein Kind? Man versucht sich die Zukunft seines Kindes im Kontext einer anderen Familie vorzustellen. Ein sehr schmerzhafter Prozess, weil man ja am liebsten selbst für sein Kind da sein würde. Daraufhin habe ich mich mit vielen Menschen unterhalten, die mit Adoption zu tun haben, die selbst Kinder adoptiert oder beruflich mit Adoption zu tun haben. Und dann las ich einige Bücher von Menschen, denen gesagt wurde, dass sie nicht mehr lange zu leben haben. Da sind in den letzten Jahren sehr viele Autobiografien erschienen, auch in Blog-Form. Und dann habe ich mit Organisationen gesprochen, die sich um Kinder kümmern, die gerade mit einem Verlust zurechtkommen mussten. Das alles habe ich dann zusammengefügt und noch eine Menge von mir selbst hinzugegeben.
Ist es nur ein Zufall, dass nach „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ der Tod wieder eine solch zentrale Rolle in einem Ihrer Filme spielt?
Ja, das ist ein Zufall. Beide Filme gehen auf einen Zeitungsartikel zurück, denn ich selbst habe nur sehr wenig Fantasie. Auch mein allererster Film als Regisseur, „Spiel der Träume“, der teilweise in Deutschland über Immigranten aus Sri Lanka gedreht wurde, war ebenfalls von einem Zeitungsartikel inspiriert worden. In all diesen Fällen hat der jeweilige Zeitungsartikel etwas in mir berührt. Bei „Mr. May“ war es ein Artikel über einen Beamten, der sich mit Menschen beschäftigt, die alleine gestorben sind. Und nun hatte der Artikel über den sterbenden Vater eines vierjährigen Jungen wieder etwas in mir ausgelöst. Ich glaube, dass der Tod etwas sehr Interessantes und Wichtiges ist. Und doch glaube ich nicht, dass es in den Filmen um den Tod geht. Natürlich spielt der Tod in ihnen eine Rolle, aber meiner Meinung nach sind beides doch eher Filme über das Leben, wie wir unser Leben leben, und welche Rolle unsere Beziehungen zu anderen Menschen dabei spielen. In „Mr. May“ ging es viel um die nicht vorhandenen Beziehungen von Menschen, was dann in Einsamkeit resultiert. Einsamkeit zu ergründen war für mich der entscheidende Faktor, warum ich „Mr. May“ drehen wollte, weil ich damals in einer ähnlichen Lage war, nachdem ich mich hatte scheiden lassen. Bei „Nowhere Special“ geht es um Elternschaft und die Kommunikation, die man mit seinen Kindern hat, und wie man mit der Wahrheit umgeht. Das ist für mich nach wie vor ein spannendes und nicht gänzlich erschlossenes Thema.
Der Film hat einen sehr eigenen Look, wirkt teilweise fast dokumentarisch. Hatten Sie beim Inszenieren Vorbilder?
Ich verlasse mich dabei auf meinen natürlichen Geschmack und auf mein begrenztes Talent, was mich in Kombination zu etwas wie „leisem Filmemachen“ führt, wie ich es nennen würde. Sowohl beim Schreiben als auch beim Inszenieren favorisiere ich die Stille. Bei „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ war Yasujirô Ozu mein großes Vorbild, obwohl es mir schwerfällt, ihn in einem Satz mit meinen Arbeiten zu nennen. „Die Reise nach Tokio“, „Später Frühling“, „Der einzige Sohn“ – alle Werke Ozus sind einfach fantastisch! Seine Filme sind zugleich tiefgreifend, universell und ruhig. Aus jüngerer Zeit gefallen mir die Filme der Dardenne-Brüder ausgesprochen gut, die in einem naturalistischen Umfeld angesiedelt sind. Es sind Dramen, die aber nicht überhöht sind. Die Situationen sind dramatisch, aber die filmische Sprache nicht. Bei „Nowhere Special“ war die zugrundeliegende Geschichte so dramatisch, dass ich das Gefühl hatte, die Lautstärke zurückdrehen zu müssen, die Geschehnisse für sich sprechen und diese durch die Filmtechnologie lediglich aufzeichnen zu lassen.
„Es ist eine Liebesgeschichte zwischen Vater und Sohn“
Andere Regisseure hätten daraus ein Melodrama gemacht, was genauso in Ordnung wäre, aber nicht meinem Geschmack entspricht. Douglas Sirk hat wunderbare Melodramen inszeniert, aber mir fehlt dazu die Handfertigkeit. Ich mag einige seiner Filme, aber ich selbst würde nicht wissen, was ich mit den Farben oder der Musik machen soll. Schon in der Drehbuchphase von „Nowhere Special“ war alles sehr beobachtend angelegt. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen einem Vater und einem Sohn, die über einige Wochen hinweg abgebildet wird. Der Film hat keinen Anfang und kein Ende, eigentlich nur einen Mittelteil. Ich brauchte am Anfang nicht die Diagnose beim Arzt oder am Ende eine Szene im Krankenhaus oder auf dem Friedhof. Wir sehen, wie der Vater versucht, den Alltag für seinen Sohn so normal wie möglich zu halten. Wir beobachten deswegen alltägliche Dinge, das Frühstück, ein Spaziergang im Park oder zum Kindergarten – alles Dinge, die jeden Tag passieren, hier aber mit einer unterschwelligen Bedrohung für ihre Beziehung einhergehen. Insofern stimmt es, dass das auf semi-dokumentarische Weise eingefangen ist. Was in den meisten Fällen langweilige Alltagsbeobachtungen wären, erhält in diesem Fall durch die unterschwellige Bedrohung seine Spannung.
Daniel Lamont war während der Dreharbeiten wirklich erst vier Jahre alt. Wie erklärt man einem so kleinen Jungen, um was es in dem Film geht?
Wichtig zu wissen ist, dass Daniel ganz wunderbare, unterstützende und ihn liebende Eltern und eine ungefähr vier Jahre ältere Schwester hat. Er ist ein sehr glückliches und ausgeglichenes Kind. Die Eltern lasen das Drehbuch und mochten es sehr, der Vater entdeckte darin auch einige Vater-Sohn-Momente, die er aus seinem eigenen Leben mit Daniel kannte. Sie erklärten ihm dann, worüber hier ein Film gedreht werden sollte. Natürlich versteht ein Vierjähriger den Tod nicht, den verstehen ja noch nicht einmal wir. Aber wir haben darauf verzichtet, psychologische Motivationen für das zu schaffen, was hier passieren sollte. Das individuelle Drama einzelner Szenen wurde nicht diskutiert, es gab kein Method Acting. Ich sagte ihm auch nie, dass er traurig schauen müsse.
„Die Freundschaft, die man im Film sieht, ist echt“
Meine Regieanweisungen waren eher mechanischer Natur, was er zu tun, was er zu sagen und wo er hinzuschauen habe. Aber mir war es sehr wichtig, dass James Norton [der Filmvater; die Red.] ein enger Freund Daniels wird. Schon vor den Dreharbeiten haben die beiden eine Menge Zeit miteinander verbracht, James hat in Daniels Elternhaus mit ihm gespielt, sie sind zusammen in den Park gegangen, haben Eis oder gemeinsam mit Daniels Eltern zu Abend gegessen. So haben die beiden eine sehr enge Beziehung zueinander aufgebaut. Die Freundschaft, die man im Film sieht, ist echt, und die beiden sind auch jetzt noch miteinander in Kontakt. Deswegen glaube ich nicht im mindesten daran, dass die Dreharbeiten für Daniel ein Trauma waren, eher das Gegenteil. Erstaunlich ist, dass Daniel im wahren Leben ein sehr quirliger und energiegeladener Junge ist. Der Michael, den ich im Drehbuch beschrieben habe, ist aber ein sehr ruhiges und introvertiertes Kind. Sobald die Kamera lief, wurde Daniel im wahrsten Sinne des Wortes zu Michael, diesem ruhigen Jungen. Und wenn die Szene im Kasten war, sprang er wieder herum und unterhielt das ganze Team mit seinen Späßen. Das war für mich wie ein Wunder, dafür gebührt mir auch keinerlei Anerkennung. Das hängt eher mit James Nortons Großzügigkeit zusammen, dass er sich die Zeit nahm, mit Daniel eine solche Bindung aufzubauen. Und vielleicht hat auch die Atmosphäre am Set dazu beigetragen.
Die andere wichtige Rolle des Films spielt James Norton, den Sie wohl schon von Anfang an für den Part vorgesehen hatten, richtig?
Ja, das stimmt. Ich bin auf sein außerordentliches Talent durch die englische Fernsehserie „Happy Valley – In einer kleinen Stadt“ aufmerksam geworden, in der er einen sehr widerwärtigen Kerl spielte. Aber er hat ja auch schon ganz andere Rollen gespielt, vielleicht sogar etwas zu oft gebildete junge Männer aus der Mittelklasse. Ich wusste aber, dass er Potenzial für etwas Anderes hat. Ich vermutete auch, dass er Lust darauf hatte, zu zeigen, dass mehr in ihm steckt als nur der hübsche Junge, denn er ist ein ernstzunehmender Schauspieler mit einer enormen Bandbreite. Deswegen hatte ich ihn schon sehr früh im Kopf, war aber nicht sicher, ob ich genug Gelder für den Film bekommen konnte, um mir James auch leisten zu können. Dann hatte ich das Glück, dass Eurimages das Drehbuch sehr gut gefiel und wir es mit ihrer Unterstützung schafften, James für die Rolle zu besetzen. Ich hatte im Drehbuch nicht viele Emotionen in Dialoge gepackt, denn John hat kaum jemanden, mit dem er seine Situation diskutieren kann. Deswegen benötigten wir jemanden, der Emotionen über seine Augen und seine Bewegungen transportieren konnte, ohne Worte. Und James war dafür genau der Richtige! Für ihn war es etwas Neues, so viel mit so wenig Text darzustellen, aber er liebte es.
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