Die Autorin Lola Lafon verbringt in ihrem autobiografischen Roman „Immer wenn ich dieses Lied höre“ eine Nacht im Versteck der Familie Frank. Wichtiger als die Nacht selbst ist für das Buch der Reflexionsprozess, den Lafon durchläuft. Sie zeigt anhand vieler Beispiele, welche Faktoren die Wahrnehmung des berühmten Tagebuchs beeinflussen. Es beginnt schon mit der Frage, welchem Genre es zugerechnet werden sollte: „Zeugenbericht, ein Testament, ein Werk?“ Lafon arbeitet heraus, dass Anne Frank mit Überarbeitungen anfing, sobald Radio Oranje 1944 meldete, dass Briefe und Tagebücher aus dieser Zeit einmal wichtige Dokumente sein würden. Lafon wird in Vorbereitung auf ihre Nacht im Hinterhaus eingeschärft, das Tagebuch nicht als Einsatz für Frieden zu beschreiben, weil Anne Frank schlicht gelesen werden wollte. Wem das Tagebuch gehöre, fragt sich Lafon: „Ihren Lesern? Den Verlagen? Ihrem Vater, dem die Veröffentlichung zu verdanken ist?“ Sie kritisiert, dass bei verlegerischen Eingriffen oder Adaptionen fürs Theater mitunter Anne Franks Stimme übertönt würde. Lafon lässt Vielstimmigkeit zu und gibt ohne zu dozieren wieder, was sie dazulernt. Zugleich sucht sie nach einem Platz für ihre Perspektive und Geschichte. Letztlich hat sie sehr persönliche Motive, die wenig mit Anne Frank zu tun haben.
Es dauert, bis Lafon das Hinterhaus betritt. Sie hält sich lange mit Vorbereitungen auf und räumt ein, dass sie damit das Schreiben aufschiebt. Vor Ort geht sie mit erstaunlich wenig Plan vor. Vielmehr checkt sie routinemäßig Mails und lässt das Nichts auf sich wirken, das dort seit der Plünderung durch die Nazis herrscht. Starken Passagen folgt oft Zaudern: Mehrfach schildert sie ihre Befangenheit – beim Lesen wird spürbar, dass Lafon ihren Zugang erst beim Schreiben findet. Lange weiß die Autorin nicht, was die Nacht mit ihr macht, und lässt genauso Lesende im Unklaren. Sie mäandert durch Versteck und Museum, doch spart bis zuletzt Anne Franks Zimmer aus. Ihre Umwege verdeutlichen, wie viel Überwindung Lafon der Schritt über die Schwelle kostet. Den Grund dafür erläutert sie am Ende unvermittelt, stellt aber wenig Bezug zum Rest des Buches her.
Immer wenn ich dieses Lied höre | Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke | Aufbau Verlag | 173 S. | 22 Euro
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