„Wenn jemand sechs Monate Auslandserfahrung hat, wird das in Bewerbungsverfahren meist besser beurteilt als eine Migrationsgeschichte.“ Aladin El-Mafaalanis Worte, so lakonisch wie wahr, stehen auf einer Wand der Ausstellung „Wer wir sind“ in der Bundeskunsthalle. Rund herum: Videos und Interviews von Menschen mit Migrationsgeschichte, auch Audiomitschnitte zum Thema Heimat oder Deutschtum. Eine junge Frau aus Deutschland spricht etwa von ihrer eigenen Irritation über völlig unbegründete, aber offenbar tief verankerte stereotype Vorurteile über Schwarze oder Juden, die ihr widerwillig, aber unmittelbar in den Kopf kommen. Fotografien zeigen den strengen Fabrikalltag von vietnamesischen Arbeitern, die in den 80ern von der DDR unter dem Motto „Arbeitskraft gegen Ausbildung“ akquiriert wurden. Ein Pappschild, das 1993 an einer Garage in Essen hing, trägt die Aufschrift: „Migranten schreiben ihre/eure Geschichte“. In dieser Garage gründete sich der Verein zum heutigen DOMiD, aus dem die Zeitzeugnisse stammen: Das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland mit Standort in Köln verschreibt sich als bundesweit größte Sammlung einer multiperspektivischen Geschichtsschreibung von Migration und deren Erinnerungskultur. Die Ausstellung „Wer wir sind – Fragen an ein Einwanderungsland“, eine Kooperation mit der Bundeskunsthalle, kreist in der Zusammenstellung aus kritischen künstlerischen Positionen zum Thema politische Macht und gesellschaftliches Selbstverständnis einerseits und dokumentarischen Objekten andererseits, um den großen identitären Fragenkomplex: Wer gehört in Deutschland zum „Wir“ – und warum nicht alle? Gibt es ein „Wir“ nur durch Ausschluss und Abgrenzung von Anderen?
Deutschland hat Einwanderung lange als randständiges oder vorübergehendes Phänomen – etwa im Sinne der Wirtschaftsprogramme der Nachkriegszeit – externalisiert. Heute ist klar: Migration ist kein Ausnahmephänomen. „Wir leben alle in einer Migrationsgesellschaft und schreiben diese Geschichte“, betont Aurora Rodonò.Als Kulturschaffende, Forscherin und Diversitymanagerin ist die ehemalige DOMiD-Mitarbeiterin Expertin an der Schnittstelle von Kunst und Migration. Unter ihrer Regie und in eigener Moderation findet am 23. Juni als Rahmenprogramm zur Ausstellung ein gemeinsames „Storytelling“ mit vier Zeitzeuginnen statt.
Das Sichtbarmachen von individuellen Erzählungen, die von der dominanten Geschichtsschreibung verdeckt werden, sei ein großer Teil ihrer Arbeit. Weil bis heute das Bild vom männlichen Gastarbeiter dominiert, obwohl der weibliche Anteil an den 2 Millionen Eingewanderten bis 1970 schon ein Drittel betrug, gehe es im doppelten Sinne darum, die Geschichten von Frauen zu „bergen“. Unter dem Siegel temporärer, zweckgebundener Duldung, das seit den 50ern mit dem heute kurios anmutenden Begriff „Gastarbeiter“ auferlegt wurde, steckt das Leben, Arbeiten und Lieben, der Widerstand und künstlerische Verarbeitung von Jahrzehnten. Zu dem Foyergespräch „Her mit dem guten Leben! ,Gastarbeiterinnen´ zwischen Arbeit, Liebe und Poesie“ sind Frauen geladen, die für gleiche Löhne und faire Arbeitsbedingungen streikten, die allein oder mit Familie waren, Sozialarbeiterinnen oder Performerinnen wurden, die am Fließband einer Schreibmaschinenfabrik Gedichte schrieben – kurz: von einem ganzen Leben erzählen können. „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“ (Max Frisch), auch dieses bekannte Zitat ist in der Ausstellung zu lesen.
Gemeinsam mit interessierten Gästen, die herzlich eingeladen sind, selbst Erinnerungsstücke mitzunehmen, möchte Rodonòins kollektive Sprechen kommen. „Denn geteiltes Erfahrungswissen ist das Herzstück, aus dem Forschung entsteht.“
Gespräch in der Lounge. Her mit dem guten Leben! „Gastarbeiterinnen“ zwischen Arbeit, Liebe und Poesie. | Fr 23.6. 19 Uhr | Bundeskunsthalle, Bonn | https://www.bundeskunsthalle.de/
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