Kapitalismus - Eine Liebesgeschichte
USA 2009, Laufzeit: 120 Min.
Regie: Michael Moore
Doku zur Wirtschaftskrise
Fehler im System
"Kapitalismus - Eine Liebesgeschichte" von Michael Moore
„Bowling for Columbine“, in dem sich Michael Moore 2002 mit der amerikanischen Waffenkultur auseinandersetzte, war für den streitbaren Dokumentarfilmer der internationale Durchbruch. Es folgten „Fahrenheit 9/11“, eine entlarvende Abrechnung mit der Bush-Dynastie und 2007 „Sicko“, der das bankrotte und ungerechte Gesundheitssystem der mächtigsten Nation dieser Welt offenlegte. Bereits vor 20 Jahren dokumentierte Moore mit „Roger & Me“, wie der Automobilkonzern General Motors seine Niederlassung in Moores Heimatstadt schloss und die Einwohner in die Arbeitslosigkeit stürzte. Für „Kapitalismus – Eine Liebesgeschichte“ kehrt das unbequeme Schwergewicht nun vor die Pforten des mittlerweile insolventen Konzerns zurück, bei dem er natürlich längst Hausverbot hat. Moore bleibt sich treu: Polemik, rührselige Einzelschicksale und fragwürdige Vergleiche gehören auch in dieser Dokumentation zum Konzept. Doch hinter dem, was ihm seine Kritiker vorwerfen, steckt wie immer mehr.
Das unbequeme Schwergewicht
In dieser filmischen Abrechnung mit dem Kapitalismus blickt Moore erst einmal zurück zu den Glanzzeiten der freien Marktwirtschaft, in der die Medien die goldene Ära der vergangenen Jahrzehnte in den buntesten Farben spiegelten und es noch keine Michael Moores im Kino gab. Dann kritisierte ein zunehmend pessimistischer Präsident Carter die Genusssucht – Ronald Reagan übernahm das Ruder und initiierte den Anfang vom Ende: Die Wirtschaft begann, auf kurzfristige Gewinne zu spekulieren, Gewerkschaften wurden zerschlagen. Die Auswirkungen durchleben wir heute. Moore serviert unterhaltsamen Geschichtsunterricht, kramt dazu augenzwinkernd im Film- und Fernseh-Archiv, zieht treffende Vergleiche zum dekadenten, alten Rom. Und er besucht Opfer: obdachlose Familien, die von Banken mit Refinanzierungsplänen für ihre Eigenheime übers Ohr gehauen wurden, Fabrikarbeiter, die mit ihrer Firma verheiratet sind und, ohne zu wissen warum, vor der Scheidung stehen. Inwieweit sich der Kapitalismus systemübergreifend etabliert hat, zeigt Moore, wenn er von gewinnorientierten Jugendstrafvollzugsanstalten erzählt, in denen weitgehend unbescholtene Kinder viel zu lang einsitzen, damit Vollzieher und geschmierte Richter davon profitieren.
Moore zeigt, wie krank die Zivilisation ist
Es sind viele kleine Skandale, die Moore auf der Leinwand vereint. Daraus lassen sich gewiss keine aussagekräftigen Statistiken erstellen. Das ist auch nicht Moores Anspruch – Zahlen zitiert er höchstens. Doch vor allem bezeugt er deren Auswirkungen. Auch wenn seine Beispiele Einzelfälle sind, so zeigen sie, was in seinem Land, auf das der Regisseur so gerne stolz wäre, alles möglich ist und wie krank die sogenannte Zivilisation ist. Moore deckt auf, wie die Mächtigen ticken. Das ist so schwarzweiß gezeichnet wie entlarvend. Er verpackt seine Recherchen so unterhaltsam und kurzweilig, wie es sich mancher Schüler, und so diskussionsanregend, wie es sich der Lehrer wünscht. Moore geht es dabei nicht um die Welt – ihm geht es in erster Linie um Amerika. Seine international erfolgreichen Filme sind zutiefst amerikanisch inszeniert – und richten sich in erster Linie an die Amerikaner. Der „aufgeklärte“ Europäer sieht sich darin eher in seinen Vorurteilen bestätigt, stempelt Moore zum Trivialjournalisten ab und schüttelt den Kopf darüber, wie dieser Amerikaner spätestens seit „Sicko“ unseren Kontinent zum Paradies verklärt. Die Kritiker schimpfen, können aber selbst nichts dagegen halten: Um Michael Moore zu zeigen, dass Europa kein Garten Eden ist, bräuchte es einen europäischen, vielleicht einen deutschen Michael Moore – eine Mischung aus Günter Wallraff („Eine Reise durch Deutschland“) und Martin Sonneborn („Heimatkunde“).
Moore ist kein trockener Analytiker. Moore ist vor und hinter der Kamera ein Journalist mit Herz. Emotional und gewitzt. In letzter Konsequenz aber ist es ihm immer ernst. Es ist keine Polemik mehr, wenn er das amerikanische Volk fragt: „Worauf schwören wir denn wirklich Treue?“ Und mit „Kapitalismus – Eine Liebesgeschichte“ wird er am Ende so ernsthaft wie noch nie: „Ich kann so nicht weitermachen, es sei denn, die, die das sehen, schließen sich mir an. Beeilt euch.“ Michael Moore scheint sich mittlerweile über die ausbleibende Revolte zu wundern: Trotz „Roger & Me“ wirtschaftete General Motors sich und seine Arbeiter zu Grunde, trotz „Fahrenheit 9/11“ wurde Bush wieder gewählt. Warum? Der Systemkritiker fürchtet, dass seine hintergangenen Mitbürger deshalb weiter passiv schweigen, weil sie womöglich selbst davon träumen, eines Tages ein Stück vom großen Kuchen abzubekommen. An der Kinokasse ist Erfolg für Moores Filme nicht messbar, weil der Dokumentarfilmer erst erfolgreich sein kann, wenn seine Filme etwas bewirken. Moore ist nicht nur Filmemacher. Er ist ein Macher. Und er will Taten sehen. Er will die Revolution!
(Hartmut Ernst)
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