Mittwoch, 20. Januar: Die Halbwertszeit von Fernsehfilmen, die sich darum bemühen, aktuelle gesellschaftliche Ereignisse oder Debatten aufzugreifen, ist oftmals recht kurz. Hin und wieder gibt es jedoch Ausnahmen von dieser Regel, wie nun durch den bereits 2008 entstandenen WDR-Fernsehfilm „Ihr könnt euch niemals sicher sein“ von Nicole Weegmann bewiesen, der auch nach sieben Jahren nichts von seiner Aktualität verloren hat und mit dem sich auch die nächste Generation von Schülern noch gut identifizieren kann. Davon durfte sich die seit dem Wintersemester 2015/16 als Vertretungsprofessorin für Regie an der ifs in Köln lehrende Regisseurin bei der Projektion des Films ein Bild machen, der vom überwiegend jugendlichen Publikum im gut besuchten Filmforum begeistert aufgenommen wurde. Weegmann hatte 2008 die Amokläufe an den Schulen von Erfurt und Elmsdetten als Grundlage für einen Film genommen, der sich mit der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen, aber auch mit den Missverständnissen zwischen den Generationen und Vorverurteilungen durch die Gesellschaft auseinandersetzte.
Drehbuch, Regie und Hauptdarsteller Ludwig Trepte wurden 2009 für ihre hervorragenden Leistungen u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Grund genug, den mittlerweile nur noch selten ausgestrahlten Fernsehfilm auf der großen Leinwand noch einmal zu betrachten, um mit der Regisseurin im Anschluss über ihre Arbeitsweise zu diskutieren. Das Gespräch leitete Weegmanns ifs-Kollege Prof. Gerd Haag, der als Spezialität der Filmemacherin ihren Drang, „Finger in die Wunden der Gesellschaft zu legen“ anführte, und sie als eine Regisseurin vorstellte, die Menschen liebe, die in Schwierigkeiten sind. Davon zeugt auch „Ihr könnt euch niemals sicher sein“, in dessen Zentrum ein Schüler steht, der unschuldig verdächtigt wird, ein Attentat an seinem Gymnasium geplant zu haben. In der Tat bestätigte Weegmann im Gespräch, dass sie „Figuren mit Verletzungen“ interessierten. Obwohl sie heute etliches an dem Film anders machen würde, konstatierte sie, dass er nach wie vor Gültigkeit habe, weil er das archaische Grundproblem aufgreife, dass Erwachsene die Kindergeneration nicht verstünden. Weegmann war das Drehbuch für den in Köln gedrehten Film damals vom Autorenteam Eva und Volker A. Zahn angeboten worden, und sie war sofort Feuer und Flamme, weil sie sich gleich mit der in Bedrängnis geratenden und dennoch sehr passiv agierenden Hauptfigur identifizieren konnte.
Nicole Weegmann gestand, dass sie ambivalente Figuren und solche, die bei ihren Aktionen scheitern, besonders möge. „Die brutalsten und tiefsten Konflikte spielen sich in Familien ab“, ergänzte die Regisseurin und erläuterte, dass insbesondere in Familien hohes Potenzial zum Scheitern gegeben sei, obwohl es alle Beteiligten darauf angelegt hätten, eigentlich alles richtig zu machen. Das Publikum im Filmforum war besonders vom beeindruckenden Spiel Ludwig Treptes angetan. Weegmann verriet, dass sie damals Probleme hatte, ihn für die Rolle durchzusetzen. Einigen der Entscheidungsträger war er zu düster, sie hätten in der Rolle lieber einen Sonnyboy gesehen. Am Ende konnte Weegmann aber ihre Wunschbesetzung durchdrücken, was sich für ihren Film als Glücksfall erwies. Trepte hat seitdem eine beachtliche Karriere hingelegt und in rund 50 Rollen vor der Kamera gestanden, zuletzt in der heiß diskutierten Serie „Deutschland 83“. Von Gerd Haag auf ihr Erfolgsrezept bei der Arbeit mit Schauspielern angesprochen, erläuterte die Regisseurin: „Schauspieler können sich bei mir fallen lassen. Ich gebe ihnen das Gefühl, keine Angst haben zu müssen.“ Ihre Darstellungen würden wahrhaftiger, wenn man sie nicht einsperre. In den kommenden Monaten wird Nicole Weegmann nun versuchen, etwas von ihrem inszenatorischen Feingefühl an ihre Studenten an der ifs weiterzugeben.
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