choices: Herr Maack, Greenpeace gibt es seit einem halben Jahrhundert. Welche Rolle spielen Artensterben und Artenschutz für die Entwicklung von Greenpeace?
Thilo Maack: Mit Artensterben meinen sie sicherlich den Verlust von Biodiversität – dieser Begriff umfasst sowohl den Verlust von Arten als auch den der genetischen Variabilität innerhalb der Arten und den der Ökosysteme. Als sich Greenpeace in den 1970er Jahren aus Protest gegen die Atomkraft gründete, wandten sich die damaligen Aktivisten vergleichsweise schnell auch dem Thema Walfang zu, der damals vor Kalifornien noch betrieben wurde. Die ersten Greenpeace-Mitglieder sind mit Schlauchbooten rausgefahren, um den Walfang zu verhindern, denn das Schicksal der Wale war für uns ein Sinnbild des Umgangs des Menschen mit der Natur. Wie die Geschichte gezeigt hat, haben wir damit absolut einen Nerv getroffen. Die Kollegen in Brasilien beispielsweise, die jetzt alle unter dem Bolsonaro-Regime leiden, sind unmittelbar in Biodiversitätskampagnen z um Schutz des Amazonas-Regenwaldes involviert. Ebenso haben wir eine große Kampagne zum Schutz der borealen Wälder in Europa organisiert, auch in Deutschland. Das Thema Biodiversitätsschutz ist neben Atomkraft, Klimawandel, Mobilität, Energie, Massentierhaltung, Waldschutz und Meeresschutz ein wichtiger Teil unserer Arbeit.
„Wir gehen immer an den Ort, an dem das Unrecht geschieht“
Welche Rolle haben Umwelt-NGOs für die Entwicklung des Artenschutzes gespielt?
Der größte Erfolg war sicherlich 1986 das Zustandekommen des Walfangmoratoriums. Dass tatsächlich ein Moratorium für kommerziellen Walfang ausgesprochen wurde, ist ein direkter Erfolg der Umweltbewegung, nicht zuletzt von Greenpeace, da wir unmittelbar beteiligt waren. Das war das erste Mal, das so etwas wie ein Stopp zum Schutz der Natur zustande gekommen ist, das kann man nicht hoch genug hängen. Der zweite Punkt ist das Umweltprotokoll zum Antarktis-Vertrag von 1991, in dem klar geregelt ist, dass die Antarktis der Wissenschaft vorbehalten bleibt und industriell nicht ausgebeutet werden darf. Auch das ist ein Ergebnis unserer Kampagnen. Wir haben damals etwa in der Antarktis überwintert, um zu zeigen, was auf dem Spiel steht. „Bearing Witness“, also Zeugnis ablegen, ist ein wichtiger Modus Operandi für uns. Denn wir gehen immer an den Ort, an dem das Unrecht an der Natur geschieht: In den Regenwald, der abgeholzt und verbrannt wird, mit Schlauchbooten zwischen die Wale und die Harpunen oder gegen illegale und zerstörerische Fischerei. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt unserer Arbeit.
Die Öffentlichkeit erkennt mittlerweile die Klimakatastrophe an, während das gleichermaßen drastische Artensterben wenig beachtet wird. Warum diese Diskrepanz?
Allein zu dieser Frage könnten wir ein abendfüllendes Interview führen. Ich glaube, der größte Treiber dahinter ist diese kognitive Dissonanz, der „Knowing-Doing-Gap“: Wir handeln schlicht anders als wir wissen, dass wir handeln sollten. Dann ist es natürlich so, dass das Problem komplexer ist, als das der fossilen Energieträger: Wenn ich einen Liter Öl verbrenne, entsteht immer eine ganz bestimmte Menge an Treibhausgasen, ob am Amazonas oder im deutschen Buchenwald. Das ist schlecht, das lässt sich physikalisch nachweisen. Der Verlust von Biodiversität im tropischen Regenwald hat aber möglicherweise ganz andere Konsequenzen, als der Verlust von Biodiversität in Nordeuropa. Und noch ein anderes Phänomen ist meiner Meinung nach ganz entscheidend: Jede Generation geht nur von dem Naturschatz aus, den sie vorfindet. Meine Großmutter hat mir erzählt, wenn sie in den Garten ging, flatterten Myriaden von Schmetterlingen um ihre Fingerhüte herum. Das gibt es heute nicht mehr. Wir haben eine massive Verarmung der Biodiversität, auch in Deutschland. Das wird aber von jüngeren Generationen anders wahrgenommen als von älteren. Und das ist ein Riesenproblem.
„Die größte Kritik an der Umweltbewegung ist der Vorwurf, nicht unabhängig zu sein“
Das Artensterben nimmt an Drastik zu. Warum scheint das Engagement der Umweltschutzorganisationen vergeblich?
Weil den Leuten Wirtschaftswachstum wichtiger ist als der Schutz der Umwelt. Wir sehen uns massiven Medienkampagnen ausgesetzt, die suggerieren, dass das schon alles nicht so schlimm ist. Es gibt ein ganzes Heer an Lobbyisten, die Industriebelange durchsetzen – in Parteien, in Brüssel. Und wir dringen nicht in der Breite durch, in der wir durchdringen müssten, um Veränderungen herbeizuführen. Aber ich glaube die Zeit war noch nie so reif, tatsächlich einen Unterschied zu machen.
Umweltschutzorganisationen sehen sich vermehrt Kritik ausgesetzt. Verändert das Ihre Arbeit?
Ich glaube die größte Kritik an der Umweltbewegung ist der Vorwurf, nicht unabhängig zu sein. Das ist fatal. Darum unterstreichen wir bei Greenpeace immer unsere finanzielle Unabhängigkeit. Wir nehmen keine öffentlichen Gelder, weder von der Regierung noch von Stiftungen oder ähnlichen Einrichtungen, wir sind ausschließlich privat finanziert. Das heißt, wir bekommen 90 Prozent unseres Geldes durch Daueraufträge von unseren Förderern, den Rest durch Erbschaften und ähnliches.
Vor allem aus der Klimabewegung heraus hat sich eine neue Generation des Umweltaktivismus entwickelt. Wie sehen Sie diese neuen Bewegungen?
Also erst einmal bin ich heilfroh, dass es so etwas wie Fridays For Future wieder gibt, also eine Jugendbewegung für den Schutz unseres Planeten. Das finde ich absolut klasse und bewundernswert, das gab es seit den 1980ern nicht mehr, als ich so alt war wie heute die FFF-Aktivisten. Aber es gibt Grenzen. Wir haben uns immer der Gewaltlosigkeit verschrieben – es gibt andere Organisationen, die diese Grenze ab und zu überschreiten, aber das wollen wir nicht und tun wir nicht. Traditionelle Umweltorganisationen hadern aber auch zum Teil mit der modernen Kommunikation. Diese gesamte Social-Media-Welt zu bedienen, diese unglaubliche Diversität an Medien von Tik Tok bis Instagramm, ist eine große Herausforderung. Als wir in den 90er Jahren die Ölbohrplattform Brent Spar besetzt hielten, die versenkt werden sollte, waren wir abends in der Tagesschau – am nächsten Tag haben sich alle darüber unterhalten, denn die hatten 14 Millionen Deutsche gesehen. Heutzutage ist die Medienlandschaft so divers, dass man schlicht und ergreifend mit anderen Aspekten konkurrieren muss, das macht die Sache ziemlich schwer.
Die neue Generation betont Widerstand durch zivilen Ungehorsam. Wie steht Greenpeace dazu?
Eines unserer Alleinstellungsmerkmale ist, dass wir dorthin gehen, wo das Unrecht an der Natur passiert. Wenn das in der Antarktis ist, fahren wir in die Antarktis. Und wenn das mitten auf der Nordsee ist, dann fahren wir auch im Oktober auf die Nordsee. Und wir versuchen smarte Aktionen zu bringen, die auch ein wenig zum Schmunzeln bringen sollen, zum Beispiel als wir das C an der Parteizentrale der CDU in Berlin geklaut haben. Was nicht funktioniert ist, einfach das, was alle anderen tun, größer und lauter zu machen. Ich glaube stattdessen, man muss etwas Eigenständiges tun. In den 1970er Jahren, der Zeit der großen Bürgerrechtsbewegungen, als tausende Bürger auf die Straßen gegangen sind und Straßentheater aufgeführt haben, haben wir uns ein Boot geliehen und sind nach Amchitka gefahren, wo die Atomtests stattfinden sollten.
Wo sehen Sie Fehler und Grenzen der älteren Umweltbewegung?
Greenpeace selbst ist sehr groß geworden, ein weltumspannendes Netzwerk von nationalen Büros. Das führt natürlich auch zu immer größeren internen Abstimmungsprozessen und das macht uns manchmal eher langsam, wo eigentlich Geschwindigkeit gefragt wäre. Ein großer Tanker ist eben schwieriger zu manövrieren als ein kleines Schlauchboot. Dann ist da die generelle Gretchenfrage der Umweltbewegung: Wie dringen wir zu all denen durch, zu denen wir durchdringen müssten? Es ist einfach nicht wegzudiskutieren, das nicht alle Interesse an Natur- und Umweltschutzthemen haben, beziehungsweise damit einfach nicht erreicht werden. Die, die nach wie vor Wert darauf legen, dass das Nackenkotelett 3,50 Euro kostet, die keinen Gedanken daran verschwenden, ob es richtig oder falsch ist, Fleisch oder Fisch zu essen, die glauben einen SUV kaufen zu müssen, der 15 Liter schluckt, die zum Einkaufen am Wochenende nach London fliegen – das sind die Leutedie wir eigentlich erreichen müssten, die aber kein Interesse haben, erreicht zu werden. Das ist, glaube ich, die große Herausforderung.
Im Regierungshandeln ist nicht zu erkennen, dass auf den Biodiversitätsverlust als existenzielles Problem reagiert wird. Hat die Umweltschutzbewegung neue Ideen?
Auch darüber könnten wir ein eigenes Interview führen. Die allererste Maßnahme aus unserer Sicht wäre es, dem Umweltministerium ein Vetorecht zu geben. Das Finanzministerium hat bereits so ein Vetorecht – wenn also von der Regierung beschlossene Projekte den Haushalt aus allen Angeln heben, darf das Finanzministerium dagegen einschreiten. Etwas vergleichbares brauchen wir auch für das Umweltministerium. Es muss die Möglichkeit haben, bei beschlossenen Projekten wie Autobahnbau, Abholzung von Wäldern, Begradigung von Flüssen oder Ähnlichem sagen zu können: Nö. Dann gibt es das sogenannte „überragende öffentliche Interesse“, und zurzeit schlägt dieses öffentliche Interesse oft Umweltrecht. Da geht es um die Erschließung von Gas- und Ölquellen, da geht es um Autobahnbau und ähnliches, da fällt die Umwelt meist automatisch vom Tisch. Dieses überragende öffentliche Interesse muss im Grundgesetz auch der Natur zugebilligt werden. Dann hat die Natur ein Recht auf Unversehrtheit, genau wie wir Menschen, und dieses Recht muss auch einklagbar sein. Das führt mich zum dritten Punkt, nämlich: Der Natur tatsächlich einen Rechtsstatus zuzubilligen, der vor dem internationalen Gerichtshof einklagbar ist. Es gibt diesen Begriff des Ökozids, der bedeutet, dass man der Zerstörung von Natur den gleichen juristischen Status gibt Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn man fordert, dass die Brandrodung des Amazonasregenwaldes zu stoppen ist, muss dies vor dem Internationalen Gerichtshof einklagbar sein. Das sind die drei Ansätze: Vetorecht für das Umweltministerium, die Aufnahme der Naturerhaltung als überragendes öffentliches Interesse ins Grundgesetz und ein Rechtsstatus für den Naturschatz.
Werden diese Ideen irgendwo umgesetzt?
Bolivien hat sich zum Beispiel den Schutz von Mutter Natur in die Verfassung geschrieben, in Neuseeland sind Flüssen Persönlichkeitsrechte zugesprochen worden. Das sind Beispiele, wie es gehen könnte – dass man tatsächlich sagt, dieser Naturabschnitt, dieser Wald, hat ein Recht auf Unversehrtheit. Und alle menschlichen Aktivitäten, die dem entgegenstehen, können gestoppt werden. Es gibt ganz prominente Multiplikatoren für die Idee des Ökozids, Papst Franziskus zum Beispiel, Greta Thunberg, auch Emanuel Macron. Also gibt es Beispiele, auch prominente Beispiele. Ich will nicht sagen, dass UN-Generalsekretär Antonio Guterres mittlerweile schon so weit ist, aber er steht sehr kurz davor. Es wird einen Schlüsselmoment im Dezember dieses Jahres geben, wenn die Weltnaturschutzkonferenz, die Biodiversitätskonferenz in Montréal, zusammenkommt, um Ziele für 2030 festzusetzen. von der Gestaltung dieser Ziele hängt auch alles ab, was in den kommenden Jahren hier in Deutschland passiert. Deswegen wird für uns der 7. bis 19. Dezember ein absoluter Schlüsselmoment sein. Eine unserer Hauptforderungen besteht darin, dass bis 2030 mindestens 30 Prozent des Planeten unter Schutz gestellt werden müssen. Das ist ein Ansatz der glücklicherweise auch von der Bundesregierung unterstützt wird. Wie das im Detail aussehen wird, das muss man dann sehen.
UNARTIG - Aktiv im Thema
biodiversity-plants.de/downloads/JD155.pdf | Die etwas ältere Mitteilung der Uni Hamburg diskutiert, welcher Lebensraum mehr Arten birgt: tropischer Regenwald oder europäischer Trockenrasen?
rote-liste-zentrum.de | Das Rote-Liste-Zentrum koordiniert die Erstellung der Roten Listen für Deutschland, die über gefährdete Arten informieren.
mpg.de/17678393/artenschutz-wikelski-jetz | Das Gespräch zwischen Mitarbeitern der Yale University und des Max-Plank-Instituts diskutiert das Verhältnis von Artensterben und Klimawandel.
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