Manchmal ist Bojs Vater lieb – „apfelkuchenlieb“, manchmal ist er böse – dann hat „Bösemann“ von ihm Besitz ergriffen. So nennt der junge Protagonist in Gro Dahles und Svein Nyhus’ gleichnamigem Kinderbuch die Version seines Vaters, die immer dann zum Vorschein kommt, wenn dieser gerade wütend ist. Für Kinder ab fünf Jahren erzählt und illustriert das norwegische Künstlerpaar eine ergreifende Geschichte über das Tabuthema häusliche Gewalt.
Im NordSüd Verlag erschienen wurde der Titel 2019 mit dem Jugendbuchpreis „Silberne Feder“ ausgezeichnet – und das zurecht. Dahle und Nyhus gelingt es, das ernste Thema für ein junges Lesepublikum aufzubereiten (wobei das Buch dennoch gemeinsam mit einem Erwachsenen gelesen werden sollte). Schon das Cover vermittelt durch hektisch-grobe Pinselstriche mit Schraffur-Effekt das emotionale Chaos des Protagonisten, denn „Bösemann“ ist überall: Er sitzt hinter der Stimme des Vaters, im Nacken und in den Händen, die ganz rot sind vom vielen Zerstören. Und er ist im Keller, in den Wänden und unterm Teppich des Einfamilienhauses. Gro Dahle beschreibt aus Bojs Perspektive, wie „Bösemann“ auftaucht, sich aufbäumt, schließlich explodiert und dabei alles um sich herum kaputtmacht. Und wie er dann wieder verschwindet und sich in Ascheflocken auflöst.
Unglaublich berührend wird Bojs Gefühlswelt beschrieben, wenn die Angst plötzlich in ihm aufsteigt, sein Herz anfängt, schneller zu klopfen, und die Anspannung sich im ganzen Körper ausbreitet. Dabei arbeitet die Autorin häufig mit Wortwiederholungen und Gegenüberstellungen: „Und alle Geräusche erzählen von Papa. Boj gibt es nicht. Mama gibt es nicht.“ Hier wird gelungen beschrieben, wie das Ich des Protagonisten unterdrückt wird, weil es keinen Raum hat, sich sicher zu entfalten. Boj fällt sogar das Atmen schwer; die Anpassung an die Stimmung anderer wird sichtbar, ebenso das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse und Gefühle, um zu verhindern, dass die Elternfigur sich ärgert und diesen Ärger durch physische Gewalt äußert. Daher ist das Verlangen, sich mitzuteilen und jemandem anzuvertrauen, zunächst kleiner als die Angst vor den Konsequenzen – nur dem Nachbarshund erzählt Boj alles. In der Natur, inmitten von Tieren und Pflanzen, fühlt er sich sicher. Diese helfen ihm letztlich auch, seinen Kummer in Worte zu fassen und um Hilfe zu bitten.
Indes harmonieren Nyhus’ eindrucksvolle, teils gruselige Illustrationen im Collagestil auf beklemmende Art mit dem poetisch-einfühlsamen Text und spiegeln die lauernde Gefahr wider, die von Bojs Vater ausgeht. So veranschaulichen etwa dessen übergroße Hände die Wahrnehmung des Kindes, das seinen Vater als ständige Bedrohung erlebt. Auf der letzten Seite des Buches wird der Begriff „Häusliche Gewalt“ noch einmal klar definiert. Zudem werden Kontaktadressen von Hilfseinrichtungen für betroffene Personen aufgelistet. Dahles und Nyhus’ Buch bricht mit einem Thema, über das meist geschwiegen wird, und trägt somit maßgeblich zur Enttabuisierung von häuslicher Gewalt bei.
Gro Dahle: Bösemann | Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt | NordSüd Verlag | ab 5 Jahren | 48 S. | 18 €
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