Es ist ein lauer Abend in Köln. In der Bahn stehen ein paar angefressene Zombies und eine blutverschmierte Krankenschwester. Ich freue mich von Herzen, dass ich dem Halloween-Treiben entgehen darf und auf meinem Weg in die Kirche bin. In die Kulturkirche, um genau zu sein. Denn dort trägt heute Herr von Stuckrad-Barre sein Panikherz zum Altar. Nach Büchern wie „Soloalbum“, „Live Album“ und „Remix“ kam in diesem Jahr „Panikherz“ heraus.
Die Kirche platzt aus allen Nähten. Im hölzernen Setzkasten, der vorne an der Wand hängt, stehen noch die Liednummern des gestrigen Gottesdienstes. Ich denke darüber nach, wie viele Seiten „Panikherz“ hat. 576 Seiten sind es. Sie handeln vom Innenleben des Benjamin von Stuckrad-Barre, seinem Erwachsen(werden), heraus aus einer wahrhaftigen Pfarrersfamilie und sie beschreiben seine polytoxen Freizeitbeschäftigungen des Drogenkonsums. Sein berauschender Mischkonsum endet irgendwann im hauptberuflichen Junky-Dasein. Da ist er dann so gar nicht mehr frei und Rock´n´Roll, sondern auch nur in einem spießigen Beschaffungs-Kreislauf gefangen.
Aber es geht auch um Freundschaft, Familie und den sagenhaften Einfluss, den ein gutes Idol haben kann. Dieses Idol heißt Udo Lindenberg. Wenn Stuckrad-Barre Udos Stimme imitiert, glaubt man fast der echte Udo stehe da vorne. Aber es ist der Autor selber, der trotzt seiner Abkehr von Alkohol und Drogen immer noch aufgekratzt ist und ein wenig wie auf Speed wirkt.
Sogar seinem eigenen Sohn, der vier Jahre alt ist, sei der Papa manchmal zu laut, erzählt er zwischen den Kapiteln. Es komme dann vor, dass sein Sohn sich mit einem Buch auf die Couch setze und sich dieses vor das Gesicht halte, um seine Ruhe zu haben. Diesen Habitus habe er vom Vater erlernt. Der Platz auf der Couch in Kombination mit einem Buch bedeutet Ruhe für die nächsten Stunden.
Heute liest der inzwischen medienscheue Kritikerliebling mit sanfter Stimme und macht keinen Radau. Allein die Flasche Rotwein, von Stuckrad-Barre als „Pennerglück“ bezeichnet, steht provokant auf dem Tisch. Doch er raucht nur an die sechs Menthol-Zigaretten und lässt den Qualm wie Weihrauch aufsteigen.
Als ich ihn frage, wie es für ihn als Pfarrerssohn sei, in einer Kirche zu lesen, erwidert er: „Ich fühle mich hier ganz wohl“. Er, der auszog, um die Nächte zu durchdringen, dabei den Verstand verlor und am Ende nur noch fünf Beutel Speed im Safe aufbewahrte, entschied sich am Ende doch für die große Nüchternheit. Das ist gut so, findet Yesem M., welche die Karten zur Lesung als Hochzeitsgeschenk erhalten hat. „Diesen Typ live zu sehen, der das alles durchgemacht hat. Das war schon echt persönlich.“
In der Tat hat es Power, wenn einer der brachial ehrlich von seiner Sucht und dem eigenen Verfall erzählt, sich da vorne hinstellt und seine eigene Geschichte liest. Das ist ein Zeugnis. Das macht Hoffnung. Wie passend, dass wir uns in einer Kirche befinden. „The main character is full of despair“, lautete seine fast immer passende Standard- Antwort, damals im Deutsch-, und Englischunterricht. Voller Verzweiflung also. Stuckrad-Barre hat die Verzweiflung durchlebt und sie in eine literarische Abfahrt verwandelt. „Panikherz“, ein guter Titel findet Mihai P., „beschreibt doch gut diesen Stress-Zustand, der manchmal als angenehm und manchmal unangenehm empfunden wird beim Drogenkonsum.“
Stuckrad-Barre legt nach dem, im wahrsten Sinne des Wortes ernüchternden Ende seines Buches, noch ein spaßiges Kapitel nach. Nach dem ganzen Ernst etwas Schubidu. Er sei ja keiner, der sagt: „Seht doch zu, wie ihr zurecht kommt mit meinem Leben.“ Und tut es doch.
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