Andreas Kleinert wurde 1962 in Ost-Berlin geboren. Seine Filme wurden mehrfach ausgezeichnet und u. a. in Cannes, Venedig und auf der Berlinale gezeigt. Für das TV-Drama „Mein Vater“ erhielt er 2003 einen Emmy-Award. Sein aktueller Film „Lieber Thomas“ kommt am 11. November in die deutschen Kinos.
choices: Herr Kleinert, wie sind Sie auf das Thema Thomas Brasch gestoßen bzw. wie ist das Drehbuch von Thomas Wendrich an Sie herangekommen?
Andreas Kleinert: Ich habe Thomas Wendrich in das Projekt geholt, denn es gab vorher eine andere Drehbuchfassung, die ich nicht gerne drehen wollte. Thomas hat mit mir zusammen bereits „Freischwimmer“ gemacht und als Schauspieler in meinem Film „Wege in die Nacht“ mitgewirkt. Wir verstehen uns nicht nur menschlich, sondern auch inhaltlich-künstlerisch sehr gut, deswegen brachte ich ihn in das Projekt hinein, das sich von da an rasant entwickelt hat. Ich selbst habe ja an derselben Filmhochschule studiert wie Thomas Brasch, der aber, weil er viel älter war als ich, dort nur noch als Geist existierte, den man rausgeschmissen hatte, und der auch im Gefängnis war. Der Widerstandsgeist, der von ihm ausging, war aber noch spürbar. Nach der Wende habe ich den ersten Film im Westen mit dem Produzenten gemacht, der auch die ganzen großen Brasch-Filme gemacht hatte – Joachim von Vietinghoff. Ich machte mit ihm dann genau den Film nach „Der Passagier – Welcome to Germany“, den Brasch mit Tony Curtis gedreht hatte – „Verlorene Landschaft“. Und auch da war Braschs Geist in den Räumen, und der Produzent hat mir viel über ihn erzählt. Ich bin ihm zwar nie persönlich begegnet, aber es war von Anfang an klar, dass es hier ganz viele Möglichkeiten gibt, über diese Jahrhundertgeschichte zu erzählen, über diesen Mann, der im Osten und Westen gelebt hatte, in seinen Texten und in seiner Kunst sehr deutlich auf die Zeit reagiert hat. Das sind Dinge, die wir uns heute auch aktuell noch fragen, mit denen er sich damals schon beschäftigt hat. Er ist eine Stimme, die man auch heute noch hören sollte, weil er vieles analytisch betrachtete, häufig aber auch aus dem Bauch heraus und emotional reagierte, weil er ein Antikapitalist und ein Widerständler war. Er hat sich nicht kaufen lassen, was ich sehr bewundert habe, denn viele, die die DDR verlassen haben, haben im Westen dann das geboten, was man von ihnen hören wollte. Brasch hat immer das geboten, was er wollte (lacht). Er war geradezu begabt darin, in den Widerspruch zu treten. Das sollte uns heute in einer Zeit, in der die politische Korrektheit große Erfolge feiert, ermuntern, sich wieder zu trauen, Meinungen zu vertreten, auch wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen.
Dann war es also ein Herzensprojekt von Ihnen, Thomas Braschs Leben auf die Leinwand zu bringen?
Schon nach der Wende gab es mehrere Ideen, Projekte umzusetzen, die dann aber nicht zustande gekommen sind – dazu gehörte bei mir damals auch schon ein Projekt über Thomas Brasch. Vor zehn Jahren kam es dann zu einer guten Fügung, die von Christian Granderath, dem NDR-Fernsehfilm-Chef, und Michael Souvignier und Till Derenbachvon der Kölner Zeitsprung Pictures ausging, die Interesse hatten, einen Brasch-Film zu machen und auf mich zukamen. Manchmal braucht ein Film eben seine Zeit. Wenn ich den schon damals in den 1990er Jahren gemacht hätte, dann hätte ich eigentlich den für mich falschen Film gemacht. Jetzt im Abstand und mit 30 Jahren Erfahrung eines geeinten Deutschlands, konnte ich den Film auch anders machen. Wir wussten von Anfang an, dass wir kein langweiliges Biopic machen wollten, das die biografischen Daten abarbeitet. Wir wollten von Vorneherein eine Collage machen aus Gedichten, Erinnerungen, Literatur und aus dem, was Brasch erfindet, seinen Träumen. Man kann alles anzweifeln in dem Film, wir spielen im Film damit, was sich der Zuschauer alles im Kopf vorstellen kann. Das ist ein spielerischer Umgang mit Wirklichkeitsebenen, der uns beim Schreiben und Inszenieren große Freude gemacht hat.
„Du kannst alles anzweifeln oder du kannst alles glauben“
War für Sie relativ schnell klar, dass der Film in Schwarz-Weiß gedreht würde? Was waren die Beweggründe dafür?
Ich habe ja schon viele Schwarz-Weiß-Filme in meinem Leben gedreht, weil ich Schwarz-Weiß liebe. Außerdem hängt das hier damit zusammen, dass fast alles, was über Brasch existiert an Fotos und Filmen, ebenfalls in Schwarz-Weiß ist. Damit kann man die Verwischung der Wirklichkeitsebenen auch noch einmal deutlicher machen, um nur nicht in die Gefahr eines Naturalismus zu kommen. Um von Vorneherein zu sagen: Du kannst alles anzweifeln oder du kannst alles glauben. Brasch hat ja auch selbst Legenden über sein Leben verbreitet. Viele Leute, die ihn noch kannten und uns von ihm erzählt haben, haben dabei die unterschiedlichsten Perspektiven eröffnet. Da kann man dann auch nicht nach einem Mehrheitsprinzip entscheiden, was davon wahr und was nicht wahr ist. Wir wissen nicht, wie Brasch gelebt hat, es ist eine reine Behauptung. Und der spielerische, verwischende Umgang mit den Zeitebenen wird durch das Schwarz-Weiß extrem unterstützt.
Albrecht Schuch ist in seiner enormen Körperlichkeit eine tolle Besetzung für die Rolle. Hat es lange gedauert, ihn zu finden?
Lustigerweise standen, als wir noch am Anfang des Buches waren, sowohl Albrecht Schuch als auch Jella Haase für die Hauptrollen bereits fest. Wir haben nie gesucht oder gecastet. Wir suchten auch nicht nach Ähnlichkeiten, sondern nach einer Persönlichkeit, die sowohl die Bodenständigkeit und die Erdung als auch die Sensibilität und die Kraft verkörpern konnte, und da gibt es nicht viele Schauspieler, die das spielen können. Deswegen suchten wir nicht nach Ähnlichkeit, weil uns das viel zu sehr eingeschränkt hätte.
Lustig ist auch, dass Jörg Schüttauf nicht nur Braschs Vater, sondern noch einmal, wie in „Vorwärts immer“, Honecker spielt. Wessen Idee war das?
Ursprünglich hatten wir bei der Honecker-Begegnung im Film an etwas Collagehaftes gedacht, mit Dokumentaraufnahmen und Fotos. Dann war aber klar, dass man Honecker erleben und sehen muss. Braschs Vater war ja wirklich mit Honecker befreundet, und es gab zwischen den beiden etliche Parallelen. Deswegen ist es doppelt gut, dass in Honecker nun noch einmal der Vater auftaucht. Jörg hat das Ganze sehr sensibel gespielt, und natürlich auch anders als in einer Komödie. Wir haben hierfür eine ganz andere Tonalität gewählt, der Duktus ist wesentlich reduzierter. Wir wollten Honecker auch nicht als blöden Funktionär zeigen, sondern die Figur ernst nehmen.
„Es hat uns Spaß gemacht, mit der Wirklichkeit zu spielen“
Visuell herausragend ist die Mischung von Traumsequenzen und Realität. Wie wurde das am Set zusammen mit Kameramann Johann Feindt umgesetzt?
Man könnte ja beim Betrachten des Films mit seiner offenen Struktur ohne klassische narrative Klammer heute meinen, dass das alles erst im Schnitt zusammengebastelt worden wäre. Aber bis auf zwei kleine Szenen findet sich das alles schon im Drehbuch. Wenn ich Träume, Fantasien und Erinnerungen inszeniere, dann habe ich sie im Vorfeld natürlich ganz klassisch psychologisch mit den Schauspielern erarbeitet. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, dabei nicht in die Übertreibung zu gehen, sondern es ernst zu nehmen. Andererseits haben wir Szenen, die klassisch realistisch sein könnten, auch nicht sonderlich realistisch gedreht. Es hat uns Spaß gemacht, mit dieser Wirklichkeit zu spielen. Mit Johann Feindt habe ich schon viele Filme zusammen gemacht, und wir haben nach Stilisierungen gesucht, bei denen nicht alle Knöpfe nach oben gezogen sind. Das ist dann am Ende ein Zusammenspiel aller Kräfte – des Szenenbilds, der Kamera, der Lichtgestaltung, bei der es auch Anspielungen auf die Nouvelle Vague oder den deutschen Filmexpressionismus gibt. Es sollte spielerisch Assoziationen für den Zuschauer eröffnen und keinen musealen Look verströmen.
Sie sind heute selbst Professor für Spielfilmregie an der Filmhochschule. Wie würden Sie Thomas Brasch begegnen, wenn er heute bei Ihnen studieren wollte und so widerborstig auftreten würde, wie er das seinerzeit an der Filmhochschule getan hat?
Das ist eine wirklich sehr gute Frage. Wir sitzen ja oft in den Kommissionen und suchen nach Rebellen, aber da täuscht man sich oft. Viele, die diese Attitüde haben, sind dann im Studium doch nicht so aufregend, und andere, von denen man denkt, die kommen aus einem kleinen Dorf und wirken so still und introvertiert, die können dann am Ende sehr viel anarchistische Seele in sich haben. Man kann das bei den Leuten nicht auf den ersten Blick erkennen.
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