Einen Brief zu schreiben, verlangt Zeit. Allein durch die Handschrift dauert der Prozess länger und den Worten kann eine größere Bedeutung zugemessen werden als einer digitalen Nachricht. Die Schönheit, die die literarische Form eines Briefwechsels birgt, zeigt das Buch „Zwei Autorinnen im Transit“ (binooki). Hier schreiben sich vorher einander unbekannte Schriftstellerinnen. Initiiert wurde dieser Austausch vom Writers-in-Exile-Programm des deutschen PEN Zentrums, ein Stipendienprogramm für verfolgte Schriftsteller. Die Journalistin, Dokumentarfilmerin und Menschenrechtsaktivistin Şehbal Şenyurt Arınlı wurde 2017 in der Türkei inhaftiert und konnte nur durch einen Zufall nach Deutschland fliehen. Sie lebt seitdem als PEN-Stipendiatin in Nürnberg. Terézia Mora lebt auch im Exil, jedoch freiwillig. Die Schriftstellerin und Drehbuchautorin wuchs als Teil einer deutschsprachigen Minderheit in Ungarn auf und schon als Kind träumte sie von einer Zukunft in einer Stadt, fern von dem Leben ihrem Dorf.
Noch zögerlich am Anfang – denn das fehlende Wissen um die Lebensgeschichte der anderen sorgt für Vorsicht – schreiben sie einander Briefe über ihre Herkunft und ihre Sorgen, aber auch über Pflanzen und Käfer. Mit der Zeit entsteht eine Verbindung zwischen ihnen. Die Briefe – jeweils ins Türkische oder Deutsche übersetzt und in beiden Sprachen abgedruckt – geben immer mehr preis und zeigen insbesondere das Innenleben Arınlıs. Ihr Schreiben wirkt wie eine Art Therapie, ein Versuch, ihr Leben nach der Flucht zu ordnen. Ihre Briefe nehmen teils auch einen düsteren Ton an – verständlicherweise, drehen sich ihre Gedanken auch um Verluste, Ängste und Einsamkeit. Durch ihre lebhafte Sprache und die gewaltigen Bilder kann man erahnen, wie es der Schriftstellerin im Exil wohl gehen muss. Moras Stil ist dagegen klarer, sie erzählt gradliniger und gibt mehr von ihrer Geschichte preis. Vielleicht auch, weil ihr Transit bereits abgeschlossen ist.
Das Ende der Korrespondenz stimmt beide traurig. Zum ersten Mal sehen werden sie sich erst kurz vor ihrer gemeinsamen Lesung. Ein spannendes Konzept, zwei einander unbekannte Schriftstellerinnen im Exil sich schreiben zu lassen, das wunderbar aufgeht und bereits zum dritten Mal bereits umgesetzt wurde, zuvor unter anderem mit Feridun Zaimoglu.
Einen Blick in die Vergangenheit schafft die „Berliner Trilogie“ (Verbrecher Verlag) von Aras Ören.Der in Istanbul geborene Schauspieler, Dramaturg und Schriftsteller lebt seit 1969 in Berlin. Sein Langgedicht „Was will Niyazi in der Naunynstraße?“ erschien 1973 als erster großer Text über das türkische Leben in Berlin und ist eins der drei Poeme, die in dem neuerschienen Sammelwerk abgedruckt sind. Ören widmet es den Einwanderern der ersten und zweiten Generation aus der Türkei und will damit zeigen, wie diese Menschen die Gesellschaft geprägt haben.
Alle drei Poeme drehen sich um das Leben türkischer Arbeiter in Berlin, genauer gesagt in der Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Ören schafft ein Mosaik aus verschiedenen Lebensgeschichten und Erfahrungen der Bewohner*innen. Die einzelnen Gedichte stehen nebeneinander und hängen doch auch alle zusammen – Personen und Motive kommen immer wieder vor, man bewegt sich in allen drei Poemen in dem gleichen Mikrokosmos, der zugleich auch die gesamte Gesellschaft spiegelt.
Die erste Generation Einwanderer übernahm zehrende Arbeiten, schob Überstunden und versuchte sich in der neuen Stadt zu orientieren. Man erlebt mit ihnen ihren Überlebens- und Konkurrenzkampf. Die Themen Geld und Macht sind immer wieder von Bedeutung, und so System- und Kapitalismuskritik nicht fern.
Mit wenigen Worten schafft Ören lebhafte Eindrücke der sich doch sehr unterscheidenden Lebensrealitäten in der Türkei und in Berlin. Es werden Fragen der Menschen deutlich wie: Was ist Heimat, was ist Fremde? Wo ist man jemand, wo ein Niemand? Was gibt Halt und vor allem die ersehnte Sicherheit?
Şehbal Şenyurt Arınlı, Terézia Mora: Zwei Autorinnen im Transit. Ein Dialog | binooki | 143 S. | 18 €
Aras Ören: Berliner Trilogie. Drei Poeme | Verbrecher Verlag | 232 S. | 22 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Sexistische Mythen
Rebekka Endler liest im King Georg
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Gespenster zum Gähnen
Junges Buch für die Stadt Köln 2025
Bücher in Form
Der Deutsche Fotobuchpreis in Köln
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25