Keine Epoche innerhalb der Moderne investierte so viel Aufmerksamkeit in den menschlichen Körper wie unsere Zeit. Dem Körper wird eine Bedeutung als identitätsstiftendes Instrument zugeschrieben, die niemanden mehr kalt lässt. Im zeitgenössischen Tanz wird diese Tatsache auf besondere Weise reflektiert, indem die Grenzen und Konventionen des kulturellen Selbstverständnisses auf der Bühne ausgetestet werden. Das Festival tanznrw13, dessen Veranstaltungsradius sich in diesem Jahr vom 27. April bis zum 7. Mai über acht Städte (Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Krefeld, Münster, Viersen und Wuppertal) erstreckt, liefert provokante Arbeiten zu diesem Thema.
So zeigt der deutsche Choreograph Ben J. Riepe im Dialog mit seinem indischen Kollegen Navtej S. Johar die Produktion „Don't Ask, Don't Tell“, in der die beiden der Frage nach den Koordinaten des sexuellen Verlangens und ihrer Darstellbarkeit auf der Bühne nachgehen. Ein gemeinsames Thema, aber sehr unterschiedliche Antworten warten auf das Publikum in Düsseldorf und Köln. Da das Festival als Netzwerk angelegt ist, wechselt das Eröffnungsfest. In diesem Jahr steht Bonn mit zehn Events im Mittelpunkt. Gestartet wird mit der Tchekpo Dance Company, in deren Reihen Tänzer aus zahlreichen afrikanischen Ländern mitwirken. Im Zentrum ihrer Produktion „Three Levels“ steht der Versuch, die Bewegungen der Seele mit den Möglichkeiten des Körpers sichtbar zu machen. Ein archaisches Thema, das von den ersten Tagen des Säuglings bis in die Welt der Alten in einem Lebensbogen rekonstruiert wird.
Das Verhältnis von Innen und Außen treibt auch das Regieduo Samir Akika aus Algerien und Johannes Fundermann aus Münster um. In ihrem Stück „Young & Furious“ gehen die Akteure, die man aus deutschen und belgischen Schulen rekrutierte, in ihrem physischen Einsatz bis an die Schmerzgrenze. Eine Feuerprobe, die den Weg in die Erwachsenenwelt aus der Perspektive von acht jungen Menschen markiert. Festivals bieten Gelegenheiten für ästhetische Experimente. Bewegung und Klang als zwei Versionen eines Phänomens zeigen die Choreographin Henriette Horn und die Musikerin Dorothée Hahne in ihrer Produktion „Rotlicht“. Der Körper wird hier zum Bindeglied zwischen den Bild- und Tonmedien, wenn sich das Alphorn mit dem Laserbild kreuzt.
Unserer Sehnsucht nach dem Happy End nehmen sich Verena Billinger und Sebastian Schulz in ihrem Tanz-Melodram „First Life“ an. Wie lassen sich mit Gesten und Worten die aufwühlenden Emotionen darstellen, die die Liebe in uns auslösen? Die beiden entwerfen Paargeschichten, die manchmal traurig anmuten und doch stets einen unerwarteten Dreh erhalten, mit dem sie zum Happy End umgebogen werden. Ein ironisches Spiel mit schönen Bildern und dem Versuch, auszukundschaften, wo heutzutage die Zumutungen der Intimität verlaufen. Neben den Melodramen bietet das Festival Körperpräsenz, bei der man mitunter glaubt, die Knochen krachen zu hören. Etwa dann, wenn in „Violent Dancing“ der Pradeiser productions junge Männer wie Kampftiere aufeinanderprallen. Zu den Texten des lyrischen Alt-68ers Wolf Wondratschek bietet sich im Münsteraner Theater im Pumpenhaus der Anblick jugendlicher Rebellen, die ihr Publikum daran erinnern, dass die Aggression der jungen Männer einer Gesellschaft Schaden zufügt und zugleich ihren Bestand sichert. Aggression als ambivalentes Phänomen der menschlichen Konstitution will tänzerisch dargestellt werden, und Gewaltdarstellungen gehören eben zu den ultimativen Herausforderungen an einen Choreographen. An Kontroversen wird es dem Festival nicht fehlen, wobei sich die introvertierten Themen auf der Bühne zunächst einmal bewähren müssen.
www.tanz-nrw-13.de
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