Wer mit „Woyzeck“ von Georg Büchner seine erste Spielzeit eröffnet, geht gleich aufs Ganze. Kein Herumkritteln an der Politik der Banken, an der Verarmung der Bevölkerung, an Migrationsproblemen. Büchners Stück- Fragment setzt den Menschen als leidende Kreatur an sich in Szene. Der Spielplan, mit dem sich Dortmunds neuer Schauspieldirektor Kay Voges und sein Team vorstellen, versammelt gleich mehrere Klassiker. Neben „Woyzeck“ gibt es Aischylos’ Kriegsstück „Die Perser“, Shakespeares blutige Machtoper „Macbeth“, Lessings „Miss Sara Sampson“ oder Brechts „Dreigroschenoper“. Voges spricht im Interview von einem hochaktuellen Spielplan mit alten Titeln, der die Probleme der Gegenwart auf die Bühne bringt. Er erwähnt den „Billiglohnjobber“ Woyzeck, das Beziehungsdrama bei Lessing oder das Verhältnis von Orient und Okzident bei Aischylos. Die Klassiker als Krisenanalytiker anstelle agiler Jungdramatiker – das ist durchaus mutig. Voges äußert denn auch Kritik am Uraufführungshype der Theater, wobei vor allem Autoren und ihre neuesten Stücke und nicht Themen im Mittelpunkt stehen. Doch er ist alles andere als ein Verfechter des traditionellen Kanons. Das hat der 38Jährige, der 12 Jahre als freier Regisseur unterwegs war, vier davon als Mitglied der künstlerischen Leitung in Oberhausen, mit Stücken von Ostermaier, Richter oder Krausser bewiesen. Jetzt sitzt er in Dortmund selbst auf dem Chefsessel: „Es ist ein Traum, nach den Wanderjahren nun kontinuierlich fünf Jahre mit einem Ensemble für ein Publikum zu arbeiten“. Schon vor Dienstantritt blies dem neuen Schauspieldirektor allerdings der Wind heftig ins Gesicht, als er den Großteil des Dortmunder Ensembles vor die Tür setzte, darunter auch das Heimatgewächs Claus Dieter Clausnitzer. Voges steht zu seiner Entscheidung. Wandel in der Kunst sei notwendig. Er respektiert aber auch die Empörung und Trauer der Zuschauer und räumt im Umgang damit Fehler ein.
Sein eigenes künstlerisches Credo formuliert Voges aus einer Krisenanalyse seiner Zunft, die vor Legitimitätsproblemen stehe. „Das Theater muss ein Ort des Diskurses sein, sonst verliert es seine Notwendigkeit innerhalb der Gesellschaft“. Deshalb begibt sich das Dortmunder Schauspiel mit zwei Projekten auf Recherchekurs vor Ort, die sich, so Voges, mit der Stadt und ihrer Wirklichkeit auseinandersetzen. Einmal in Form der urbanen Tiefenbohrung „Stadt unter Erde“, die mittels Aussagen von Bürgern, Musik und Texten die Frage nach der Identität der Stadt stellt. Die Gegenwart soll dagegen in der aktiven Krisenanalyse und -beratung „Stadt ohne Geld“ unter die Lupe genommen werden. Das klingt nach Theater als Lebenshilfe. Bei so viel Krisentheatralik darf das Circensische nicht fehlen, und Voges hat mit Musicalund Komödien-Inszenierungen auch eine gute leichte Hand bewiesen. In Dortmund stehen deshalb ein neues Stück von Kristof Magnusson und die Hitchcock-Dramatisierung „39 Stufen“ auf dem Spielplan. „Gemeinsam werden wir uns zu den Wurzeln des Schauspiels aufmachen“, heißt es im Spielzeitheft, und dazu gehört eben auch die Spiellaune und die Komödie.
Schauspiel Dortmund I Georg Büchner: Woyzeck (R: Kay Voges) I 1.10. G. E. Les-sing: Miss Sara Sampson (R: Christoph Mehler) I 2.10. Aischylos: Die Perser (R: Marcus Lobbes) I 3.10. I www.theaterdo.de
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