choices: Frau Reuter, wie weit ist die Republik Ihrer Einschätzung nach bei der flächendeckenden Realisierung der Inklusionsidee?
Lisette Reuter: Wir sind noch weit von einer flächendeckenden Realisierung entfernt. Das soziale Modell von Behinderung muss in unseren politischen und gesellschaftlichen Systemen sowie in den Köpfen jedes Einzelnen verankert werden. Es fordert die Beseitigung physischer und sozialer Barrieren. Es geht also darum, die Umwelt und Dienstleistungen an den Menschen anzupassen, d.h. sie für Personen mit Behinderung zugänglich zu machen und nicht andersherum. Denn durch die vorhandenen gesellschaftlichen Hindernisse wird eine Beeinträchtigung von einer Person erst zur Behinderung. Wenn man zum Beispiel ins United Kingdom blickt, ist dort das soziale Modell von Behinderung politisch verankert und Grundlage, auf der politische Maßnahmen umgesetzt werden.
Wie fällt demnach Ihr Vergleich mit anderen Staaten aus?
Alle blicken im Kultursektor nach UK als großes Vorbild im Diversitäts- und Inklusionskontext, aber auch in Skandinavien bewegt sich einiges, besonders in Schweden, wo aktuell das Thema kulturpolitisch stark an Relevanz gewinnt. Ich würde sagen, es gibt in Deutschland viele engagierte Akteure und es bewegt sich gerade politisch auch einiges in die richtige Richtung, aber es ist sehr Bundesland-abhängig. Mit dem Gesamtkonzept „Diversität und Teilhabe in Kunst und Kultur“ des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft passiert auf Landesebene in NRW gerade richtungsweisendes. Auf Europa bezogen würde ich Deutschland im oberen Mittelfeld einordnen. Aber man muss auch klar sagen, wenn wir es als einer der reichsten Staaten der Welt nicht schaffen, Inklusion umzusetzen, wie sollen das dann Länder umsetzen, die nicht diese finanziellen Kapazitäten haben?
„Umsetzung ist möglich, wenn der politische Wille da ist”
Über die soziale Gleichberechtigung von Menschen mit Beeinträchtigungen wird seit Dekaden diskutiert. Vom Gefühl bleibt es bei einer gespaltenen Gesellschaft. Ist die diesbezügliche Sehnsucht nach Einheit eine Utopie?
Ich glaube, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland immer sehr leise waren und es einen recht stillen Aktivismus gab. In anderen Ländern, wie zum Beispiel in Großbritannien, wo es in den Achtzigern die „Disability Rights Bewegung“ gab, die laut, radikal und aufwühlend war, wurde auch gesellschaftlich und politisch viel mehr umgesetzt. Es wurden Gesetze erlassen, die maßgeblich die Gesellschaft in Richtung Inklusion verändern. Dies zeigt, dass es möglich ist, wenn der politische Wille da ist.
Auf welche Vorurteile oder Stigmata treffen Sie am häufigsten sowohl bei Nichtbehinderten als auch bei Menschen mit Behinderungen?
Leider hört man noch viel zu oft von Nichtbehinderten im Kulturbereich, dass Kunst und Kultur, die von Menschen mit Behinderung geschaffen wird, nicht dieselbe Relevanz und Qualität hat. Dagegen halte ich immer, dass es für diese Leute so wahnsinnig viel schwieriger ist, sich künstlerisch professionell auszubilden, weil es kaum staatliche Möglichkeiten gibt, die zugänglich für alle sind. Wer sich dazu entscheidet, als Kulturschaffender mit Behinderung professionell zu arbeiten, der hat meist ein viel höheres Maß an Eigeninitiative, an Engagement bewiesen als Künstler ohne Behinderung. Dann hört man oftmals von den Mainstream-Institutionen, wie beispielsweise den Schauspielhäusern, dass sie gerne Künstler:innen mit Behinderung in die Ensembles aufnehmen würden, es aber keine gäbe, die ausgebildet und Willens seien. Auch da sollte man nachdenken, wie die Rahmen- und Aufnahmebedingungen im Theater sind beziehungsweise wie sie verändert werden müssten.
„In der Stadt hat sich schon sehr viel Positives bewegt”
Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit mit der Kölner Stadtverwaltung, der hiesigen Politik, und welche Erwartungen haben Sie an die neue Bundesregierung in Bezug auf eine faire Gesellschaft?
Die Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Köln läuft sehr gut. Seit 2018 gibt es das Referat Kultur als Akteur der Stadtgesellschaft – kulturelle Teilhabe. Seitdem hat sich in der Stadt schon sehr viel Positives in Bezug auf Diversität und Inklusion bewegt. Auch den neuen Kölner Kulturdezernenten Stefan Charles konnten wir bereits kennen lernen. Er scheint eine größere Affinität, Offenheit und Erfahrung für das Thema mit sich zu bringen und beteuert die Relevanz, die es hat. Ich blicke sehr optimistisch in die Zukunft, dass wir auf kommunaler Ebene in partnerschaftlichen Bestrebungen Inklusion und Barrierefreiheit im Kulturbereich nach vorne bringen werden. Auch auf Bundesebene bin ich nach dem Regierungswechsel um einiges zuversichtlicher als noch zuvor. Denn mit Claudia Roth ist jetzt eine Person im Amt, die selber aus der freien Kulturszene kommt, die einen Zugang zu Diversität und Vielfalt hat und bei der das Thema Inklusion in Kunst und Kultur wohl nicht mehr hinten überfällt, so wie es bei ihrer Vorgängerin zu sein schien (Monika Grütters, CDU, Anm. d. Verf.).
Welche Produktionen stehen denn im Jahr 2022 auf dem Programm von Un-Label?
Da wir im August 2021 in Odonien (Veranstaltungsort im Kölner Norden, Anm. d. Verf.) im Rahmen des „RoboLAB Festivals“ erst Premiere mit unserem neuen Stück „(We don`t) [kehr]“ hatten, werden wir im Jahr 2022 keine neue Eigenproduktion entwickeln, sondern uns auf Gastspiele konzentrieren. Denn die mussten wegen Corona zu einem sehr großen Maße leider ausfallen oder verschoben werden. Wenn sich die Situation etwas beruhigt hat, werden wir in 2023 bestimmt wieder eine neue Arbeit vorstellen.
Un-Label Performing Arts Company | Leyendeckerstr. 27, 50825 Köln | www.un-label.eu
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