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Autor und Islamwissenschaftler Stefan Weidner
Foto: Sanje Gautam

Pegida is not dead

10. März 2015

Lesung von Stefan Weidner über den Ursprung von Pegida

Es ist ruhig geworden um die Patriotischen Europäer. Kaum ein Nachrichtenmagazin bringt noch Schlagzeilen über Pegida, Legida, Dügida oder Wügida und die anderen etlichen „gida“s. Alle wichtigen Politiker, Parteien und Promis haben sich längst von den ausländerfeindlichen Thesen der Pegida distanziert und ihren Standpunkt verdeutlich. Der tolerante und weltoffene Bürger ging zu ein oder zwei Gegen-Demos in seiner Stadt und rief „Nazis Raus“, um seine Pflicht zu erfüllen und ruhig schlafen zu können.
Das Gewissen ist beruhigt.

Aber ist der Winterspuk der neuen Rechten deshalb vorüber? Zwar schaffen sie es nicht mehr wie zu ihren Glanzzeiten, 25.000 Menschen zu mobilisieren, um auf den Straßen Deutschlandfähnchen zu schwenken, dennoch folgten am 2.3 und 9.3. immer noch um die 6500 Anhänger dem Ruf in Dresden. Dass in Folge der Demonstration noch ein Flüchtlingscamp vor der Semperoper angegriffen wurde, zeigt die politische Brisanz nur zu deutlich.

Doch woher kommen der Fremdenhass und das steigende Unverständnis gegenüber Muslimen und Flüchtlingen? Eine Antwort hierauf möchte der Kölner Islamwissenschaftler und Autor Stefan Weidner geben. Sein neues Buch "Anti-Pegida. Eine Streitschrift!" ist eines der ersten kritischen Werke über Pegida.

Foto: Jan Kryszons

Im King Georg, einer schummrigen Bar am Ebertplatz, wird dieser Frage auf den Grund gegangen. Zur Lesung und Diskussion lädt der Autor in Kooperation mit der Akademie der Künste der Welt ein. Das Publikum bietet an diesem Abend eine interessante Mischung aus typischem Kneipenpublikum, jungen Muslimen und Studenten, einigen älteren Türken und Rentnern.

Herr Weidner beginnt seinen Vortrag mit ein paar Worten aus dem Prolog seines Buches. Es geht um „das Märchen über die Islamisierung des Abendlandes“. Er erzählt davon, dass der Weg bis zur Gründung von Pegida eine jahrelange Vorgeschichte hat, und diese bahnt sich direkt in die Mitte unserer Gesellschaft.
Mitverantwortlicher an erster Stelle, laut Weidner: Thilo Sarrazin. Der islamophobe Populismus ist maßgeblich für die Entwicklung des fremdenfeindlichen Diskurses verantwortlich. Namhafte Autoren, intellektuelle Akademiker und Prominente diskreditieren seit Jahren systematisch den Islam, und verdienen sich dabei eine goldene Nase. Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" hat sich bis 2012 alleine über 1,5 Millionen Mal verkauft.

Im Scheine einer kleinen Tischlampe führt der Islamwissenschaftler seine Thesen weiter aus: „Jahrzehntelang hat man uns die Eroberungslust des Islams vorgebet, und wundert sich dann, dass besorgte Bürger hier anschließend auf die Straßen gehen“. Es ist sehr leicht den Islam zu kritisieren und ihn als Sündenbock darzustellen, fast hat die Islamkritik etwas Tautologisches und Selbstevidentes, meint Weidner. Ein flüchtiger Blick auf die Nachrichten genügt und man bekommt eine alltägliche Bestätigung für diese Gedanken geliefert. Der Islamische Staat mordet und zerstört seine eigene Kulturgeschichte, das grausame Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo, Terrordrohungen in Bremen oder Dresden – alles ein gefundenes Fressen für die Islamkritiker, so der Autor.

Auf Amazon findet sich ein breites Sortiment an xenophober Literatur mit einprägenden Titeln wie "Angst vor Allah?", "Der Islam als grund- und menschenrechtswidrige Weltanschauung" oder "Europa und das kommende Kalifat". „Wenn ich Geld hätte verdienen wollen, dann hätte ich ein islamkritisches Buch geschrieben“, witzelt Weidner. Dass sich mit hetzerischer Formulierung bessere Verkaufszahlen erreichen lassen, ist ein alter Hut, aber immer noch gängiges Mittel zum Zweck.

Foto: Anna Kallage

Deutlich wird dies auch anhand eines Werkes mit dem hübschen Titel "Allahs Narren: Wie der Islamismus die Welt erobert" von Boualem Sansal, dem Friedenspreisgewinner des Deutschen Buchhandels. Die unterschwellige Botschaft in dieser Formulierung zwingt sich auf: „Da kann man bei Pegida froh sein, dass der Islam bloß das Abendland erobern will, und nicht die ganze Welt!“, sagt Stefan Weidner. Im Gegensatz dazu klingt das französische Original des Untertitels beinahe harmlos, und lautet übersetzt lediglich: "Islamisierung und Machthunger in der arabischen Welt." Also droht wohl doch keine Eroberung des Westens, geschweige denn der ganzen Welt?

Stellenweise vertieft sich Weidner so authentisch in die Motivanalyse von Pegida, dass man schon fast meint einen Islamkritiker vor sich sitzen zu haben. Die Bedrohung, die von dem Islamischen Staat ausgeht, ist real und muss angegangen werden, so der Autor. Aber diese Bedrohung trifft nicht uns in Deutschland: „Aktuell ist der Islam sich selbst der größte Feind“.

Pegida hat laut Weidner dennoch etwas Gutes: Die Gegenstimmen. „Ich war positiv überrascht von diesen Reaktionen. Selten sind so viele Plädoyers für ein offenes Deutschland laut geworden.“ Die Menschen und die Medien haben eine deutliche Stellung zu diesem Thema bezogen. Sei es Angela Merkel oder Herbert Grönemeyer. Sie alle zeigen, dass der Islam zu Deutschland gehört und die Muslime, die hier mit uns leben und arbeiten, als unsere Nachbarn, Arbeitskollegen und Freunde herzlich willkommen sind.

Was der Argumentation von Stefan Weidner an diesem Abend fehlt, ist die Suche nach den tiefergehenden, ursächlichen Beweggründen der Islamkritiker. Woher kommt eigentlich der Argwohn gegenüber Ausländern und warum finden die xenophoben Werke so viel Anklang? Weshalb demonstrieren die meisten ausgerechnet in Sachsen, einem Bundesland, in dem gerade Mal 0,1% der Bevölkerung muslimischen Glaubens sind? Die sozio-politischen Hintergründe werden leider nur kurz am Rande erläutert. Das Buch "Anti-Pegida. Eine Streitschrift!" ist dennoch ein wichtiges, weil äußerst medienkritisches Werk. Stefan Weidner liefert hiermit einen grundlegenden Beitrag zum aktuellen politischen Diskurs.

„Anti-Pegida. Eine Streitschrift!“ | Stefan Weidner | 96 Seiten | 4,99€

Sanje Gautam

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