choices: Frau Walter, fühlt man sich in der Ferne anders zuhause?
Ines E. Walter: Auf jeden Fall. Menschen fühlen sich anders und ob sie sich dort wirklich zuhause fühlen, ist immer die Frage. Manche von ihnen kommen vielleicht gar nicht in der Form an, dass sie dort ein neues Zuhause finden, sondern weiterhin auf der Suche bleiben.
Es entsteht eine innere Rastlosigkeit?
Wahrscheinlich ist sie schon vorher vorhanden, vielleicht ist das sogar die Motivation, zu gehen. Weil man – genauso wie in sich – nicht das Zuhause findet und dann auf die Suche geht. Das ist interessant, sich das einmal anzuschauen: Was ist eigentlich die Motivation, das erste Mal zu gehen, abgesehen von Fern-Sehnsucht oder Neugierde? Was passiert eigentlich in uns, dass dieser Impuls entsteht „Ich will gehen“?
„Abgrenzung zu der Kultur, in der man sich neu findet“
Ist es denn so, dass sich der Bezug zur Heimat intensiviert?
Auch das würde ich denken. Vor allem, wenn Orte außerhalb von Europa gewählt werden, entwickelt sich eher das Gefühl „Ich bin Europäer:in“. Es muss gar nicht regional verankert bleiben oder sich speziell auf Deutschland beziehen, sondern als ein Erleben in Abgrenzung zu der Kultur, in der man sich dann neu befindet. Die Person bekommt mit, dass sie tatsächlich woanders herkommt und das kann dann auch identitätsstärkend sein. Andersherum kenne ich auch Klient:innen, die sich nie wirklich zuhause gefühlt haben. In ihnen existiert das Wort „Heimat“ einfach nicht, sondern vielmehr ein Gefühl der Entwurzelung. Es zeigt immer deutlicher, dass wir Menschen seit Jahrhunderten im Grunde in einer Art kollektivem Trauma leben. Eine Ausprägung dessen ist, dass man sich als entwurzelt erlebt und so, als wäre man abgegrenzt von allem.
„Großfamilie wurde als ein allzu enges Korsett erlebt“
Hängt dieses Erleben mit der Zersprengung der Großfamilie zusammen?
Sowohl als auch. Auf der einen Seite wurde Großfamilie als ein allzu enges Korsett erlebt, in der ich mich schwer entfalten kann. Seitdem wir sie in der Regel in Deutschland nicht mehr haben, merkt man auf der anderen Seite aber auch, wie sehr sie einen auch stabilisieren konnte.
Weil hier feste Bande entstehen?
Und auch eine Selbstverständlichkeit. Ich glaube, dass Menschen in Großfamilien – in größeren Bezügen – nichts dazu beitragen müssen, dass sie bezogen sind, weil einfach immer andere Menschen da sind. Das kann auch eine große Bereicherung sein, wenn es nicht zu sehr einengt.
„Jemand, der eigentlich gut mit allen zurecht kommt, macht plötzlich ganz andere Erfahrungen“
Inwieweit hinterfragt man sein Selbstkonzept in der Ferne?
Wenn ich woanders ankomme, ist am Anfang erst mal oft dieser Hype da, diese Freude, etwas Neues kennenzulernen. Wir haben in unserer Arbeit oft mit Freiwilligen zu tun, die ein Auslandsjahr machen. Da erlebe ich es relativ häufig, dass nach einigen Monaten, wenn die erste Euphorie weg ist, ziemlich viel zusammenbricht. Aktuell betreue ich jemanden in Afrika. Die Person hat sehr damit zu kämpfen, plötzlich in der Situation zu sein, so aufzufallen, weil sie weiß ist. Damit ist sie so sehr sichtbar und hat kaum die Möglichkeit, sich zu verstecken. Überhaupt nicht mehr in eine Beobachterposition gehen zu können, macht ihr zu schaffen. Das rührt natürlich schon sehr an Selbstkonzepten. Jemand, der eigentlich extrovertiert ist und gut mit allen zurecht kommt, macht plötzlich ganz andere Erfahrungen. Und Fragen, die sich vorher ganz selbstverständlich beantworten ließen, sind auf einmal gar nicht mehr so klar – wer ich eigentlich bin, wie offen ich bin, wie sehr ich da bin, wie viel ich mich schützen muss. Das ist schon ziemlich bedrohlich.
„Plötzlich gehört die Person zu den früheren Täter:innen“
Es gibt also viele Kontexte, mit denen man absolut nicht rechnet.
Das nennt man auch Kulturschock. Es gibt Studien dazu, die zeigen: Sobald man ein bisschen mehr Einblick in die andere Kultur erhält, wird dieser durchlebt – nach einigen Monaten, spätestens jedoch nach sechs. Man realisiert beispielsweise, wie die Stellung der Frau im Land ist, wie niedrig der Verdienst und wie sehr die Leute dort dafür arbeiten müssen. Ein sehr dickes Brett, mit dem man vorher nicht gerechnet hat.
Mit welchen grundsätzlichen Problemen kommen Menschen zu Ihnen?
Es sind tatsächlich ziemlich viele rassismuskritische Phänomene, auch post-kolonialistische. Wenn jemand beispielsweise in Südafrika ist, wird er tatsächlich auch mit der eigenen Kolonialgeschichte konfrontiert. Plötzlich gehört die Person zu den früheren Täter:innen oder wird dahin assoziiert. Häufig erleben gerade Frauen Gewalterfahrungen im Ausland. Beispielsweise kritische Situationen wie sexuelle Übergriffe und überhaupt so etwas wie Überfälle. Das sind durchaus erschreckende Erlebnisse, mit denen Menschen zu mir kommen.
„Erschrecken darüber, wie ghettoisiert man zum Teil lebt“
Auslandsaufenthalte werden häufig idealisiert. Konflikte können umso eher überraschen?
Es ist dabei natürlich immer die Frage, wohin ich eigentlich gehe, also wie ähnlich oder unähnlich das Land oder die Kultur sind, in die ich aufbreche. Doch selbst bei Menschen, die in die USA gehen, kommt es häufig vor, dass sie sich erschrecken wie ghettoisiert man zum Teil lebt, wenn man dort gut verdient. Dass Menschen, die gut situiert sind, sich freiwillig wegsperren, um vermeintlich in Sicherheit zu sein – mit Sicherheitspersonal und Zäunen um die Siedlungen herum. Hier in Deutschland ist man relativ wenig mit Elend konfrontiert. In anderen Ländern geht die sichtbare Schere doch sehr viel deutlicher auseinander. Doch es gibt auch die andere Seite: Positive Extremerfahrungen. Dieses total Euphorisierte, völlig geflasht zu sein von der Landschaft, der Schönheit der Natur, der Schönheit der Welt.
„Positive Extremerfahrungen“
Wie lassen sich alte Kontakte bewahren?
Mein Eindruck – in Zeiten des Internets – ist, dass es doch sehr viel einfacher geworden ist, den Kontakt zu halten. Ich selbst mache auch Onlinesitzungen, mit Menschen, die in Singapur leben, in Saudi-Arabien oder eben in Ghana. Das ist schon eher ein neues Phänomen, dass man, wenn man will, auch per Video stundenlang zusammen sitzen kann und so auch etwas Vertrautes schafft.
Ich habe das Gefühl, dass der Kontakt zum Alten oder zur alten Heimat vor allen Dingen dann gesucht wird, wenn man selbst in eine krisenhafte Entwicklung kommt. Und das passiert doch relativ häufig. Nicht umsonst haben Auslandsversicherungen bestimmte psychologische Beratungskontingente.
Immer wieder passiert es, dass Menschen, auch wenn sie eigentlich sehr klar darin waren, was sie sich von dem Aufenthalt eines Jahres oder mehrerer Jahre erwarten, sich wundern, dass sie keinen Kontakt mehr zu sich aufbauen können, und all das, was als toll erwartet wurde oder sich so angefühlt hat, nun doch in eine Krise führt.
„Ganz grundlegende Menschheitserfahrungen“
Wie lässt sich so eine Krise vermeiden oder bewältigen?
Was total wichtig ist: Es überhaupt in Betracht zu ziehen, dass nicht alles toll werden könnte. Dass ich sozusagen Wohlwollen für mich selbst entwickle. Es kann gut sein, dass auch, wenn ich vorher denke, ich sei total stabil und es gebe keinerlei Gründe dafür, sich irgendwie schlecht oder depressiv zu fühlen, es dennoch eintritt. Das kann jedem von uns passieren. Es gibt ganz grundlegende Menschheitserfahrungen, mit denen wir im Ausland schneller konfrontiert werden, vielleicht auch, weil wir sie nicht so gut lesen können. Wie wenn ich mich nicht zugehörig oder sogar aktiv ausgegrenzt fühle, wenn ich nicht anerkannt werde oder mich nicht willkommen fühle. Dabei ist die Sprache sowieso schon eine Barriere für echten Kontakt, d.h. wenn ich die Landessprache überhaupt nicht spreche. Schwierig wird es jedoch auch, wenn ich Nonverbales nicht lesen kann. Diese Sequenzen führen leicht zu Irritationen und können das auslösende Moment dafür sein, dass ich im Ausland in eine Krise gerate, wenn sonst nichts Schlimmeres passiert.
„In Betracht zu ziehen, dass nicht alles toll werden könnte“
Wie kann man sich die eigene Identität bewahren?
Über die Rückbezogenheit, indem ich Kontakt zu Familie, zu engen Freund:innen halte, kann ich dafür sorgen, dass ich mich gut und sicher fühle. Wir brauchen jemanden, mit dem wir über Dinge sprechen können, die uns unsicher werden lassen. Sowas wie eine Vertrauensperson zu haben, ist – glaube ich – total wichtig. Das kann auch jemand vor Ort sein, der mir bestimmte Dinge näher bringen oder einen falschen Eindruck zurechtrücken kann. Sich nicht in den Feinheiten ausdrücken zu können, erschwert die eigene Situation. Wenn ich keine Vertrauensperson habe, weder in der Heimat noch vor Ort, dann sind Sachen gut, die den Ausdruck fördern. Dass ich zeichne, male und irgendwie meine Gefühle darstellen kann. Dass ich sie nach außen bringe und nicht nur in mir lasse. Vielleicht male ich dann erst einmal nur schwarze Bilder, dann ist das eben so. Auszudrücken, was in mir ist, ist wichtig, damit es nicht weiter vor sich hingären kann. Insofern ist auch Schreiben eine ganz wichtige Komponente. Was ich einigen Klient:innen vorschlage, ist so etwas wie eine Kladde, die ich immer dabei habe und in die ich alles schreibe, was mir so durch den Kopf geht. Alles, was schwierig ist, kann ich dort hineingeben. Dann kann ich es zuklappen und in meine Tasche stecken. An diesem Ort kann ich es lassen.
„Eigentlich nehme ich hier Heimat mit - auf eine Art.“
Nimmt das Fernweh mit zunehmendem Alter ab?
Es gibt Menschen, die in frühen Jahren viel unterwegs waren, die im Alter eher ruhiger werden, weil sie das Gefühl haben „ich habe alles gesehen und ich kann jetzt eine innere Reise antreten“. Bei anderen ist es genau umgekehrt. Sie gehen erst innerlich auf die Reise und haben dann das Gefühl „jetzt bin ich gut mit mir, jetzt kann ich auch im Außen losgehen“. Mein Eindruck ist, dass es zumindest mit dem Alter häufiger einhergeht, sicherere Reisen zu unternehmen. Was ich wenig nachvollziehen kann sind Reisen auf diesen riesigen Schiffen. Wo ich mir denke: Da kann ich im Grunde auch zu Hause bleiben, weil ich dabei im Grunde nichts erlebe. Also eigentlich nehme ich hier Heimat mit – auf eine Art.
UND TSCHÜSS - Aktiv im Thema
frauenberatungszentrum-koeln.de | Das Kölner Frauenberatungszentrum hilft ausdrücklich auch bei „Schwierigkeiten am Arbeitsplatz“, insbesondere bei Mobbing, sexualisierter Belästigung und Burnout.
freie-berufe.de | Der Bundesverband der Freien Berufe e.V. versteht sich als Interessenvertretung gegenüber Politik und Gesellschaft und will auch die Beziehungen der freien Berufe untereinander stärken.
arbeitsagentur.de/beruf-wechseln/neues-berufsziel-finden | Die Bundesagentur für Arbeit orientiert zu Berufswahl, Umschulung und Weiterbildung.
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