Das Wetter ist genau wie vorhergesagt, die Sonne scheint, Vögel durchziehen den Himmel und Kinder spielen zwischen den Blumenbeeten. Mit dem Gewöhnlichsten an einem gewöhnlichen Sommertag in Dublin beginnt Claire Keegans Erzählung „Reichlich spät“. Eigentlich langweilig, es geschieht nichts, und das bleibt noch eine Weile so. Bei seinem Blick aus dem Bürofenster denkt Cathal, Protagonist der Geschichte: „So vieles im Leben verlief reibungslos, ungeachtet des Gewirrs menschlicher Enttäuschungen und des Wissens, dass alles einmal enden muss.“ Man hat Sorgen und die Welt geht trotzdem ungerührt ihren Gang. Aber hier lauert schon die Ahnung, dass etwas Entscheidendes geschehen ist und wir gerade die Resonanz dieses Ereignisses miterleben.
Claire Keegan erzählt uns eine Liebesgeschichte vom Ende her und demonstriert dabei, wie dramatisch der gewöhnliche Alltag eines Paars zwischen einkaufen, kochen und aufräumen sein kann. Gerade gewann die Irin in Hamburg den mit 50 000 Euro dotierten Siegfried-Lenz-Preis für ihr Gesamtwerk. Dazu gehören etwa die Erzählung „Das dritte Licht“ oder der Roman „Kleine Dinge wie diese“, allesamt wuchtige Prosastücke. Keegan erzählt mit einer Frische, die tragischen Momenten jede Sentimentalität nimmt. Sie ist nah am Leben, wie sich auch in „Reichlich spät“ zeigt, diesem kurzen Prosatext, der sich als Einführung in ihr Werk eignet.
Ohne jede aktivistische Attitüde erzählt Claire Keegan von der tiefsitzenden Misogynie der männlichen Welt. Obwohl man sich offiziell auf Augenhöhe befindet, kommt die Verachtung in kleinen, privaten Gesten zum Ausdruck. Cathal und Sabine, eine Französin irischer Herkunft, beschließen zusammenzuziehen, aber in der plötzlichen Nähe erfährt die Beziehung feine Risse. Kauft sie zu teuer ein, stimmt es, dass er ihr nie beim Kochen hilft, hätte der Verlobungsring nicht billiger sein können? Möchte er ihr im Grunde nichts geben? Nichts von allem ist politisch und doch prägen Gesten unser Leben tiefer, als es uns bewusst ist. Indem Claire Keegan Erkenntnis in diesen Mikrobereichen des Alltags aufspürt, schenkt sie ihrer Leserschaft einen geschärften Blick für die Armseligkeit, aber auch für die Schönheit des Lebens.
Claire Keegan: Reichlich spät | A. d. Engl. von Hans-Christian Oeser | Steidl Verlag | 64 S. | 15 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Traum vom Debütroman
„Vom Schreiben leben, vom Leben schreiben“ in Köln
Orte der Gastfreundschaft
„Living-Room“ auf der Poetica 10
Mord an der Moldau
„Die Schatten von Prag“ im Literaturhaus Köln
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
„Keine Angst vor einem Förderantrag!“
Gründungsmitglied André Patten über das zehnjährige Bestehen des Kölner Literaturvereins Land in Sicht – Interview 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24