Ganz langsam, Schritt für Schritt hat sich das Theater Hagen in den vergangenen Jahren auf das Terrain der alten Musik vorgewagt. Kann ein Stadttheater in solch einem Spezialisten-Fach reüssieren, mag sich Intendant Francis Hüsers gefragt haben, und: Gibt es in Hagen überhaupt ein Publikum dafür? – Die neueste Opernproduktion, Christoph Willibald Glucks vorklassischer Dreiakter „Orpheus und Euryrike“, gibt darauf eine eindeutige Antwort: zweimal ein nachdrückliches Ja!
Für die Inszenierung hat sich Hüsers mit Kerstin Steeb eine junge Regisseurin aus Hamburg ans Haus geholt, die überzeugend unter Beweis stellt, wie sich ein rundum gelungener Theaterabend ohne viel Schnickschnack auf die Beine stellen lässt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wirklich alle mit größtem Engagement an einem Strang ziehen. Wie gut ihr das gelungen ist, zeigt sich vielleicht am ehesten am Chor, dem zahlenmäßig größten Akteur dieser Oper. Denn gesangsolistisch tritt neben dem Protagonistenpaar nur noch Gott Amor als Dritter in Erscheinung. Soll das Bühnengeschehen also in Bewegung bleiben, ist der Chor darstellerisch stark gefordert. Die Regie geht sogar so weit, den Chor immer wieder in die starken Choreographien (Francesco Vecchione) des achtköpfigen Balletts einzubinden, das als Furien und Seelen der Unterwelt das Treiben im Hades bestimmen. Und der Chor macht seine Sache hervorragend.
Als musikalischer Motivator wirkt wie in den vorangegangenen Alte-Musik-Produktionen auch der erste Kapellmeister Steffen Müller-Gabriel, der in kleiner, transparent klingender Orchesterbesetzung ein mitreißendes Feuerwerk von tiefer Verzweiflung bis zur euphorischen Erlösung am Ende abbrennt. Denn Gluck und sein Librettist Ranieri de´ Calzabigi mochten ihrem adeligen Publikum des 18. Jahrhunderts nicht das frustrierende Ende der Orpheus-Sage zumuten und schickten den Gott Amor als Deus ex machina für ein überraschendes Happy End ins Rennen. Der Regisseurin behagt das allerdings nicht, weshalb sie der geänderten Handlung noch einen eigenen allerletzten Dreh gibt. Dieses nun zurückgebogene Ende gerät durch eingesprochene Kommentare der Eurydike: „Mein Ende gehört mir“, zu einem Kommentar der aktuellen Sterbehilfe-Diskussion. Das ist intelligent gemacht.
Und nicht nur die Regisseurin legt ein glänzendes Hagen-Debüt hin. Bei der jungen Mezzosopranistin Anna-Doris Capitelli, die die ursprünglich für einen Altkastraten geschriebene Partie des Orpheus singt, lässt sich ohne Übertreibung von einer echten Entdeckung sprechen. Sie verfügt über einen Mezzo-Umfang, wie man sich ihn nur wünschen kann: mit warmen kräftigen Tiefen und klaren beweglichen Höhen. Am Ende der Premiere liegt ihr das Publikum zu Füßen. Hervorragend ist auch Angela Davis als Eurydike. Ihre Rolle ist deutlich kleiner angelegt und doch entscheidend. In dieser Inszenierung verkörpert sie nicht das passive Opfer, wie Gluck es wohl gesehen hat, und Davis vermag diesen feinen Unterschied auch zu transportieren.
Eine angenehme Prise Humor bringt Cristina Piccardi als Gott Amor ins Spiel. Als getarnte Zuschauerin steigt sie mitten im Stück aus dem Publikum in die Handlung ein – sozusagen als Dea ex plenum. Mit ihrem rosa Pulli sticht sie als Eindringling im strengen Schwarz-Weiß der Bühne überdeutlich hervor. Und auch dort gilt es, noch ein weiteres glänzendes Hagen-Debüt zu würdigen – bei der Ausstattung. Lorena Díaz Stephens und Jan Neidert gelingt es sehr unmittelbar und unverschlüsselt mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten und perspektivischen Tiefeneffekten die Abgründe und Fallhöhen der Orpheus´schen Gefühlswelt vor Augen zu führen. Bravo!
„Orpheus und Eurydike“ | R: Kerstin Steeb | 26.4. 18 Uhr, 21.6. 15 Uhr | Theater Hagen | 02331 207 32 18
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