„Die Sieger schreiben die Geschichte. Daher wurden viele Geschichten nicht erzählt: wie die der Millionen von Kolonialsoldaten, die im Ersten Weltkrieg für Großbritannien gekämpft haben.“ Akram Khan, der in London als Sohn einer bengalischen Familie geboren wurde, erzählt von den namenlosen Soldaten, die von sich sagen: „Ich habe getötet und ich werde getötet“. Die einzige Gewissheit ihrer Existenz bildet den geflüsterten Schlusssatz von Khans aktueller Choreographie „Xenos“, die er jetzt in der Gastspielreihe des Tanzes im Depot 1 des Schauspiels Köln vorstellte. Es ist die letzte Produktion, in der man den 44-Jährigen selbst noch auf der Bühne agieren sehen kann. Das Ende einer großartigen Karriere, die aber in ihrer Verwandlung vom Tänzer zum Choreographen garantiert noch Triumphe einfahren wird, angesichts der überbordenden künstlerischen Potenz, über die der Engländer immer noch verfügt.
Xenos war im antiken Griechenland der Fremde. Derjenige, von dem man nichts weiß, in dessen Schicksal sich hineinzudenken den größten Aufwand an Empathie kostete. Khans Stück ist eine Meditation über das anonyme Sterben, nicht alleine der Soldaten, beliebig könnte die Reihe mit den Arbeitssklaven des Gulag, den Arbeitern in den Kupferminen Südamerikas oder der Kohleindustrie Chinas fortgesetzt werden. Am Ende von „Xenos“ sieht man nur noch ein dreckiges Bündel Mensch auf der Bühne liegen, geschunden, erschöpft, allerdings nicht vergessen, dafür sorgt Khan mit diesem fulminanten Auftritt. Seine Bewegungsabläufe sind schlichtweg perfekt. Er beherrscht ein hohes Tempo und stellt jeden Schritt und jede Geste in den Dienst seiner Geschichte. Dieser Universal Soldier hat sowohl etwas von Büchners Woyzeck, als auch von den armen Teufeln Charlie Chaplins, wenn er rastlos werkelt, räumt und klettert. Sein Schützengraben ist haushoch, wobei Mirella Weingarten einen gigantischen, waagerechten Hügel eingerichtet hat, auf dem Khan hinauf und hinab klettert. In seiner Zähigkeit erinnert der Soldat an Sisyphos, der seinen Stein auf den Gipfel hinauf schleppt, von wo er wieder in die Tiefe stürzt. Albert Camus gemahnt uns daran, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen, weil er in der Akzeptanz des Absurden seine innere Freiheit gefunden hat. Davon kann bei Khans Soldaten keine Rede sein, er bleibt ein Gefangener in der Maschinerie des Krieges. Seine Einsamkeit ist total und führt in eine grenzenlose Verzweiflung, jede Individualität scheint ausgelöscht.
Die Düsternis seines Sujets fängt Khan mit den ausdrucksstarken Bildern seiner Tanzkunst und einem live gespielten Soundteppich auf, in dem die Rhythmen seiner bengalischen Herkunft pulsieren. Und er bietet ein überwältigendes Finale wenn die Verzweiflung am größten ist, löst sich auf dem Kamm des Hügels eine Lawine aus Tausenden kleiner Tannenzapfen, die auf ihn hinab regnen. Ein Zeichen der Gnade, offenbar ließ sich dort oben dann doch noch ein Herz erweichen. Es ist unglaublich, wie es einem Tänzer alleine gelingt, ein 60-minütiges Panorama der Unmenschlichkeit zu zeigen, das praktisch ein ganzes Jahrhundert umspannt. Klar, dass es danach kein Publikum dieser Welt auf den Stühlen hält, und so war es dann auch im Kölner Schauspiel.
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